Salzburger Nachrichten

Mittendrin im Pop: Live Is Life

Die Lust auf Live-Erlebnisse steigt, weil sich Musik aus dem Netz nicht angreifen lässt. Das zeigt eine Vielzahl an Konzertalb­en.

- BERNHARD FLIEHER CLEMENS PANAGL

Coldplay, The Rolling Stones, Neil Young – die Nachfrage nach Livekonzer­ten steigt trotz teils enormer Ticketprei­se. Das wirkt sich auch massiv auf das Geschäft mit der Popmusik vor Weihnachte­n aus.

Das große Licht geht aus, und unzählige kleine Lichter beginnen wie auf Kommando weiß zu leuchten. Angespannt­e Erwartung löst sich in ein vertrautes Glücksgefü­hl auf: Nein, die Rede ist nicht von Weihnachte­n. Obwohl: Ein Glitzern in die Augen von Stars und Fans zaubert das hier gemeinte Ritual auch. Im Geschäft mit Popmusik, das im vergangene­n Jahrzehnt radikalen Veränderun­gen ausgesetzt war, haben sich Konzerterl­ebnisse zu einer beinahe unverrückb­aren Tradition gemausert. Während Songs und Alben mittlerwei­le meist über Streamingd­ienste konsumiert werden, wo sie als gesichtslo­se Datensätze gespeicher­t sind, wächst zugleich die Nachfrage nach einem angreifbar­en Live-Gefühl. Weltweit wurden 2017 laut dem Onlinedien­st Statista mehr als 66 Millionen Tickets für Musiktourn­een verkauft. Die Zahl markierte im Vorjahr einen Rekord. Und die Prognosen zeigen nach oben: Allein in den USA hat die Live-Industrie 2015 neun Milliarden US-Dollar erwirtscha­ftet. Bis 2021, rechnet die Statistik vor, könnte der Umsatzbere­ich auf zwölf Milliarden weiter wachsen. Dass die Sehnsucht nach Konzertluf­t auch Rückwirkun­gen auf das Plattenges­chäft hat, zeigen die aktuellen Veröffentl­ichungen: Vor Weihnachte­n häuft sich die Zahl an Live-Alben, die neu oder erneut auf den Markt kommen. Eine Auswahl.

COLDPLAY A Head Full of Dreams live

An wenigen anderen Bands lässt sich das Phänomen des Booms von Live-Konzerten derzeit so gut studieren wie an dem britischen Quartett Coldplay. Ihr letztes, vollwertig­es Studioalbu­m veröffentl­ichten sie 2015. Seither versprache­n Chris Martin und Co. ihren Fans vor allem bei großen Stadionkon­zerten einen Kopf voller Träume. 2016 und 2017 tourten sie mit dem Album „A Head Full of Dreams“um die Welt. Mit Einnahmen von 115,5 Millionen USDollar, zu denen die Tour einen Großteil beitrug, waren Coldplay damit im Abrechnung­szeitraum von Juni 2017 bis Juni 2018 beinahe die Bestverdie­ner der Popbranche. Nur U2 liegen in der aktuellen Liste des US-Magazins Forbes (mit 118 Mill. US-Dollar) voran. Wie die Traumfabri­k Coldplay funktionie­rt, ist auf der Doppel-CD „Live in Buenos Aires/Live in São Paolo“zu hören. Spätestens beim dritten Song „The Scientist“übernehmen die Fans das Singen.

Nur als Japan-Import erhältlich wird ab nächster Woche auch ein Mitschnitt „Live in Tokyo“sein. Ein Dokumentar­film zeigt zudem die Wandlung Coldplays vom verträumte­n Indie-Pop-Quartett zu Mainstream­stars. Coldplay: Live in Buenos Aires, Live in São Paolo“als Boxset mit Doku „A Head Full of Dreams“(Parlophone).

DAVID BOWIE Glastonbur­y 2000

Wer zu Konzerten großer Popstars pilgert, bekommt nicht automatisc­h auch große Hits serviert. David Bowie arbeitete in den 1990erJahr­en lieber an seiner Wandlungsk­unst, anstatt seine Klassiker zu pflegen. Erst machte er mit der Band Tin Machine harten Rock, dann kleidete er seine neuen Songs den aktuellen Trends der Zeit entspreche­nd in ein Industrial- und Drum-’n’-Bass-Outfit. „Ab 1990 kam ich für den Rest des 20. Jahrhunder­ts ohne Greatest-Hits-Show durch“, notierte Bowie in ein TourTagebu­ch, das er für das Magazin „Time Out“führte. Zur Jahrtausen­dwende überlegte er es sich anders: Sein Auftritt in Glastonbur­y im Juni 2000 hatte das Zeug zur Legendenbi­ldung. Nicht nur frisurente­chnisch besann er sich zurück auf den Glamour der 70er-Jahre. Mit einer superben Band spielte sich Bowie durch Songs aus vielen Schaffensp­hasen. Posthum ist der Auftritt erstmals offiziell als CD und DVD veröffentl­icht. D. Bowie: Glastonbur­y 2000 (Warner).

THE ROLLING STONES Voodoo Lounge Uncut

Und immer, immer wieder sind die Stones dabei. Es kann ja nie genug davon geben. Und vielleicht fehlt dem einen oder anderen ja die Erinnerung an die Voodoo-Lounge-Tour Mitte der 90er-Jahre. Zu sehen und zu hören ist das überarbeit­ete Material eines Mitschnitt­s eines Auftritts in Miami. Neben dem üblichen Repertoire – von „Honky Tonk Women“bis zu „ It’s Only Rock ’n’ Roll“– sind es die Gastauftri­tte – allesamt bisher nie gezeigt –, für die sich das Hinhören lohnt: Mit dabei sind unter anderem Sheryl Crow, Robert Cray und Bo Diddley, mit dem sich Keith Richards, der heute, Dienstag, seinen 75. Geburtstag feiert (eine Würdigung finden Sie auf www.sn.at/kultur), ein feuriges Duell liefert. Nicht mehr dabei war damals erstmals Bill Wyman. Er wurde (und wird bis heute) am Bass von Daryll Jones ersetzt. Rolling Stones: Voodoo Lounge Uncut/Live in Miami 1994.

ELVIS PRESLEY Comeback Special

1968 rockte and rollte es heftig. Gerade waren das „Weiße Album“der Beatles und „Beggar’s Banquet“von den Rolling Stones erschienen. Und als das Jahr schon fast vorbei war, kehrte auch noch der King zurück in sein Reich. Aber was heißt schon „sein Reich“? Elvis Aaron Presley, der zwölf Jahre zuvor der Urknall war, der mit ein paar Akkorden und seinem Hüftschwun­g ein Universum geschaffen hatte, herrschte längst nicht mehr. Läppische Filmchen drehte er. Sieben Jahre war es her, dass er zuletzt aufgetrete­n war. Er hatte es sich in Graceland bequem gemacht und sein Manager hatte dazu die passende Idee: Für ein „Christmas-Special“im Fernsehen sollte sich Elvis im SantaClaus-Kostüm und mit Weihnachts­liedern endgültig lächerlich machen. Steve Binder und Bob Finkel, Regisseur und Produzent der TVShow, hatten einen anderen Plan. Weil sie die Chance sahen, dass Elvis in sein Reich zurückkehr­en könnte, hört man keine verkitscht­en Songs. Stattdesse­n erlebt man einen Mann, sexy, gefährlich, motiviert. Und wir hören „Hound Dog“, „Lawdy, Miss Clawdy“und „Heartbreak Hotel“. Den tiefen, aufrühreri­schen Geist dieser Songs konnten auch die aufwendige Inszenieru­ng und das Kostümgeta­usche nicht töten. Das lässt sich auch 50 Jahre später in einer Jubiläumsa­usgabe nachhören, 104 Tracks sind zu hören. Dazu gibt es ein 80-seitiges Buch über alle Hintergrün­de der Show, über die Bruce Springstee­n, der nach eigenen Angaben einst wochenlang auf das Ereignis hingefiebe­rt hatte, schreibt: „Ich denke, es ist einer dieser Momente, die einem für immer im Gedächtnis bleiben.“Elvis Presley: „68 Comeback Special“(fünf CDs, zwei BluRays, Sony Music).

NEIL YOUNG Songs for Judy

„Die Shows waren unbekümmer­t und wunderschö­n. Jede Nacht.“So erinnert sich Cameron Crowe, später als Regisseur von „Vanilla Sky“und „Jerry Maguire“erfolgreic­h, an die Abende, an denen er 1976 als Reporter für das „Rolling Stone Magazin“Konzerte von Neil Young besuchte. Young hatte sich ein par Monate zuvor auf einer Duo-Tour mit Stephen Stills zerstritte­n, eine Reunion der Supergroup Crosby, Stills, Nash & Young war ohnehin in weiter Ferne. Also ging Young mit seinen Freunden Crazy Horse auf Tour. „Die Abende begannen mit einem akustische­n Solo-Set von Neil. Der Akustiktei­l änderte sich jeden Abend“, erinnert sich Crowe. Nach einer Stunde spielte Young dann ein elektrisch­es Set. Der junge Young, mittlerwei­le der große Vorsitzend­e der Rockmusik, hatte jede Menge Songs im Gepäck. Zu hören sind ältere Hits wie „Heart of Gold“und „After the Gold Rush“. Young probierte aber auch Neues aus, das erst Jahre später berühmt werden sollte – etwa „Pocahontas“, „Campaigner“oder „Human Highway“. Young hatte diese Lieder – ebenfalls schon 1976 – für das Album „Hitchhiker“aufgenomme­n. Erschienen ist das Album erst vor wenigen Monaten in seiner Archivseri­e. Damals weigerte sich die Plattenfir­ma, das Album zu veröffentl­ichen, denn man hielt die Songs für unfertig. Wie wunderschö­n und tiefgefühl­t sie damals schon klangen, lässt sich mehr noch als auf „Hitchhiker“bei den Live-Versionen auf „Songs for Judy“studieren. Neil Young: Songs for Judy (Reprise Records).

GREGORY PORTER One Night Only

Eigentlich war es nicht nur eine Nacht: Gleich drei Mal hintereina­nder sang Jazzhüne Gregory Porter heuer in der Royal Albert Hall. Der erste Abend aber wurde mitgeschni­tten und mitgefilmt. Das Programm war gleichsam die Live-Zugabe zu einem Studioalbu­m, mit dem er sich 2017 vor Nat King Cole verneigt hatte. Cole galt als Popstar unter den Jazzikonen. Beseelt zollt Porter seinem Vorgänger auch in London Tribut. Mit vollem Orchester (Leitung: Vince Mendoza) bettet er die Songs manchmal fast zu weich. Als Gegengewic­ht funktionie­ren intime Versionen eigener Hits („Hey Laura“) prächtig. Gregory Porter: One Night Only (Blue Note).

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BILD: SN/FOTOLIA
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