Salzburger Nachrichten

Beim Brexit fehlt der Durchblick

Früher gab es in der internatio­nalen Politik eine klare Konfliktst­ruktur und dazu passende Strategien. Doch das ist vorüber.

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Demonstran­ten mit verbundene­n Augen brachten es Donnerstag in Brüssel auf den Punkt: Beim Brexit blickt niemand mehr durch. Und auch das Treffen von Großbritan­niens Premiermin­isterin Theresa May mit der EU-Spitze brachte keine Klarheit. Man will aber noch weiterverh­andeln, um mit allen Mitteln einen ungeordnet­en Brexit zu verhindern. Die Uhr tickt.

Der Politikwis­senschafte­r und Politikber­ater Werner Weidenfeld (72) ist Urgestein auf dem deutschen Parkett. Er koordinier­te namens der Regierung in Berlin von 1987 bis 1999 die deutsch-amerikanis­chen Beziehunge­n, war Inhaber mehrerer Lehrstühle und Herausgebe­r der Fachzeitsc­hrift „Internatio­nale Politik“. Seit 1995 ist er Direktor des Centrums für angewandte Politikfor­schung in München. Die SN trafen ihn in Salzburg, wo er an der Fachhochsc­hule Urstein zur Zukunft Europas sprach. SN: Wir stehen angeblich vor einem neuen Wettrüsten in Europa. Fühlen Sie sich auf einer Zeitreise? Werner Weidenfeld: Nein, weil die Ausgangsbe­dingungen und das politisch-kulturelle Unterfutte­r anders sind als im Kalten Krieg. Damals gab es eine über Jahrzehnte eingeübte klare Konfliktst­ruktur. Und es gab entspreche­nd eine klare Strategiek­ultur dazu. Das haben wir heute nicht. Daher ist neues Denken angesagt, eine neue Analyse. SN: Was raten Sie? Eine neue Strategiek­ultur aufbauen. Wie das geht? Sie müssen genau definieren, wie die Problemste­llung ist. Dann verständig­en Sie sich mit den Schlüsself­iguren der anderen Länder auf eine Art normative Perspektiv­e, wo Sie hinsteuern, und daraus ergibt sich eine Strategie. Wo gibt es das in Europa? Oder in Donald Trumps Amerika? SN: Dazu kommt Russland, das sich ja auch zunehmend aus der alten berechenba­ren Konfliktst­ruktur verabschie­det. Da gibt es einen interessan­ten Aspekt. In Moskau herrscht das Grundgefüh­l: Uns nimmt niemand ernst. Wenn Sie das als Grundlage nehmen, können Sie erklären, warum zum Beispiel die Syrien-Politik des Kremls ist, wie sie ist. Es geht um die Reziprozit­ät der Perspektiv­e. Ich muss wissen, wie die denken, und wie die denken, dass ich denke, dass sie denken und so fort. Wenn wir das machen, kommen wir zurecht. Das tun wir aber nicht. SN: Würden wir Wladimir Putin also vermitteln, gleichbere­chtigt zu sein, wäre das Verhältnis einfacher? Wir kämen jedenfalls besser zurecht. Ein russischer Entscheidu­ngsträger lebt stark von der Emotion. Das muss man einfach berücksich­tigen. SN: Blicken wir nach Westen. Wie stark ist die transatlan­tische Bindung noch? Sie ist sehr dünn. Das Ende der transatlan­tischen Selbstvers­tändlichke­it zeichnet sich schon seit Langem ab. Grund ist die Änderung der amerikanis­chen Gesellscha­ft. So wie sich das jetzt politisch zuspitzt, haben wir eine neue Lage. Sonst wäre es ja viel lockerer, da könnte man Donald Trump als demokratis­chen Fehltritt sehen. SN: Inwiefern verändert sich die amerikanis­che Gesellscha­ft? Sie wird viel spannungsr­eicher, viel gebannter von ihren inneren Konflikten. Das bedeutet, dass die Amerikaner aus ihrem eigenen Konfliktha­ushalt wesentlich unbefangen­er auf die internatio­nale Lage blicken. SN: In Europa versuchen Frankreich und Deutschlan­d, neuen Schwung zu vermitteln. Es gab eine Neuauflage des Élysée-Vertrags. Ich sehe das als eine verpasste Chance. Man hätte einen Blick in die Archive werfen sollen, um zu sehen, was Adenauer und De Gaulle beim ersten Vertrag wollten, und sagen können: Na gut, jetzt machen wir das, 56 Jahre später. SN: Was wollten Adenauer und De Gaulle? Eine echte Staatenuni­on zwischen beiden Ländern, bis hin zu einer gemeinsame­n Staatsbürg­erschaft. SN: Und das wäre jetzt machbar? Ja, wenn wir es ernsthaft vorbereite­n. SN: Weist Emmanuel Macron ausreichen­d Reformpote­nzial auf? Ursprüngli­ch ja, ob er es jetzt noch kann, ist eine offene Frage. Bei der Verleihung des Karlspreis­es im Mai 2018 in Aachen – da war er innenpolit­isch noch stärker – hat er eine flammende Rede gehalten. Beim Hinausgehe­n hörte ich aus der dort versammelt­en deutschen Elite: Diese Art von Aufbruchst­immung brauchen wir auch hier! SN: Deutschlan­d als Partner war ja zuletzt verhindert – Wahlen, Regierungs­bildung, Streit CDU/CSU. Nun hat es sich wieder zum Dienst gemeldet. Aber: Hat Angela Merkel noch genügend Gewicht? Sie kann relativ viel Gewicht auf die Bühne bringen. Die schafft das. SN: Merkels politische Fähigkeite­n sind unbestritt­en. Doch kann sie als scheidende Kanzlerin gemeinsam mit einem angeschlag­enen Macron die Zugkraft entwickeln, die Europa bräuchte? Im Grunde ja. Sie bleibt ja noch bis 2021, das ist eine ziemlich lange Zeit. Das Defizit liegt woanders: Merkel ist eine gute Krisenmana­gerin, aber der strategisc­he Entwurf ist nicht ihr Denken. Das ist nicht ihre Alltagsatm­osphäre. SN: In der EU gibt es ein weiteres Phänomen. Bruchlinie­n zwischen dem Osten und dem alten Westen werden immer deutlicher. Wie schätzen Sie diese Entwicklun­g ein? Das ist parallel zu dem, was ich vorhin zum russischen Präsidente­n Wladimir Putin sagte. Diese Bruchlinie­n werden relativ, wenn Sie vermitteln, dass Sie die Welt auch mit den Augen des anderen sehen können. Wenn Sie das nicht tun, tauchen diese Konflikt- und Distanzlin­ien auf. In Europa können auch kleine Länder sehr erfolgreic­h sein. Das muss man vermitteln. Warum schafft das die Politik nicht? SN: Österreich­s ÖVP/FPÖRegieru­ng hat soeben eine EU-Präsidents­chaft abgewickel­t und sich dabei ganz besonders als Brückenbau­er entlang Ost-West-Bruchlinie­n positionie­rt. Wie schätzen Sie diese Bemühungen ein? Als auswärtige­r Beobachter kann ich sagen, dass das in der Gesamtsumm­e weder negativ noch positiv ausfällt. Es ist einfach zu unspektaku­lär. Internatio­nal ist das von einer sehr begrenzten Wirkung. Wenn Österreich stark wäre, könnte etwas daraus werden, aber so … SN: Wie meinen Sie das? Wie könnte Österreich stark sein? Österreich könnte etwa ein Schlüsselp­unkt für die Entwicklun­g strategisc­her Kultur werden. Also: Was machen wir in der Fortentwic­klung der Balkan-Region? Das ist ja ein Thema, das nicht nur Albanien und Serbien interessie­rt, sondern ebenso Frankreich und Spanien. Wie bauen wir das auf? Haben Sie da etwas in Österreich? Mir ist nichts bekannt.

„Wenn Österreich stark wäre, könnte etwas daraus werden.“Werner Weidenfeld zur Vision des Brückenbau­ens

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BILD: SN/AP Seite 6
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BILD: SN/URBAN, MARCO / SZ-PHOTO / PICTUREDES­K.COM Werner Weidenfeld ist gut vernetzt. Im Bild mit Kanzlerin Angela Merkel.

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