Mit 103 Jahren plötzlich Fotomodell
Menschen, die 100 Jahre alt sind, gibt es immer mehr und sie sind immer fitter. Ein Fotograf hat Hundertjährige in aller Welt getroffen.
Eine 103-Jährige arbeitet als Model, ein 101-Jähriger gibt Schwimmunterricht, ein 100-Jähriger wird vom ehemaligen Klempner zum Künstler, ein 102-Jähriger hat gerade eine neue Freundin und eine 116-Jährige ist schwerer zu erreichen als der Papst. Wenn Karsten Thormaehlen von seinen Fotomodellen erzählt, kommt er ins Schwärmen. Der Fotograf porträtiert seit mehr als zehn Jahren Menschen, die ein dreistelliges Alter erreicht haben.
Eine von ihnen ist Ingeborg Wolf. Die 103-Jährige lebt im Taunus. Sie geht ins Fitnessstudio, entwirft Inneneinrichtungen, fährt Auto ohne Brille – und ist neuerdings Fotomodell. Ein Bekleidungshersteller wirbt zum 100-Jahr-Firmenjubiläum mit Fotos von mindestens ebenso alten Menschen. Unter Frau Wolfs Foto steht: „Stilbewusstsein hört mit 100 nicht auf.“
Ihre Wohnung in einer Seniorenresidenz ist mit Antiquitäten und Designklassikern, moderner und asiatischer Kunst in einem strengen Farbkonzept geschmackvoll eingerichtet. Sie trägt einen hellblauen Kaschmirpullover mit einer langen Perlenkette, ist gut frisiert, dezent geschminkt und voller Tatendrang. Am Morgen war sie eine Stunde beim Sport. „Das einzige, was das Alter rettet, ist Bewegen, Bewegen, Bewegen“, sagt sie. Wolf ist eine von rund 15.000 Personen in Deutschland, die über 100 Jahre alt sind. In Österreich waren laut Statistik Austria mit Stichtag 1. Jänner 2018 insgesamt 1019 Menschen (147 Männer und 872 Frauen) mindestens 100 Jahre alt. Die Zahl der über 100-Jährigen wächst weltweit rasant. Im Jahr 2000 waren in Europa pro eine Million Einwohner 59 Personen älter als 100, 2015 waren es 150, 2030 könnten es Schätzungen zufolge schon 343 sein.
Nicht alle sind so fit wie Wolf – aber fitter, als mancher vielleicht erwartet. Die „Zweite Heidelberger Hundertjährigen-Studie“ergab, dass mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer keine oder nur gerin- ge Einschränkungen im Geistigen hatte. Körperlich sieht es anders aus. Unter den befragten Hundertjährigen war keiner, der keine Gesundheitsprobleme hatte.
Mit 53 Jahren ist Thormaehlen nur etwa halb so alt. Der Fotograf hat ein Atelier in Frankfurt und ist gefragter Experte, wenn es um Hochbetagte geht. Der Münchner Verlag Knesebeck hat bereits den dritten Bildband mit seinen Altersporträts herausgebracht („100 Jahre Lebensglück“), in mehr als 50 Ausstellungen weltweit wurden seine Arbeiten gezeigt.
Angefangen hat alles mit einem schlechten Bild. Thormaehlen habe das Porträt eines Mannes gesehen, dem in einer Zeitung zum 100. gratuliert wurde, und das lieblose Foto dieser Lebensleistung unwürdig befunden, erzählt er. Er schlug seiner Agentin vor, eine Serie mit 100-Jährigen zu machen, und konnte gleich mit deren 102-jähriger Großmutter anfangen. „Ich war völlig perplex, wie agil die Dame war“, sagt er über sein erstes 100-Jährigen-Bild. Eine Erfahrung, die er noch oft machen sollte: Von vielen Hochbetagten, die er kennenlernte, sei er sehr beeindruckt gewesen.