Im Dorf mit Thomas Bernhard
Thomas Mulitzer ist aufgewachsen, wo Thomas Bernhard seine Unsterblichkeit begründete.
In meiner Familie war Thomas Bernhard eher verhasst.
TThomas Bernhard, der vor 30 Jahren gestorben ist, gehört zu den Autoren, an denen sich viele andere Autoren abgearbeitet haben. Thomas Mulitzer gehört auch dazu. Bei Mulitzer hat die Beschäftigung familiäre Gründe. „Bei uns war Bernhard eher verhasst“, sagt er. Das lag daran, dass Bernhard sein Romandebüt „Frost“in Weng im Pongau angesiedelt hat. Dort war er oft zu Gast – unter anderem im Wirtshaus der Großeltern von Mulitzer. Mulitzer reagierte in seinem Debüt „Tau“, das vor eineinhalb Jahren erschienen ist, auf das 1963 erschienene Werk „Frost“, Thomas Bernhards ersten Roman. Wie Bernhard schickt er einen jungen Mann in den Gebirgsort Weng – damit der sich dort auf die Spuren von Autor Thomas Bernhard begeben kann. 30 Jahre nach seinem Tod wird der einst als Netzbeschmutzer diffamierte Bernhard als Heiliger der deutschsprachigen Literatur verehrt. Wie also sieht es 30 Jahre nach Bernhards Tod mit der Bewertung des Autors in jenem Pongauer Dorf aus, das ein wichtiger Urort seiner literarischen Karriere war? SN: Herr Mulitzer, wie entdeckten Sie Thomas Bernhard – und den Roman „Frost“? Mulitzer: Bei uns daheim gab es immer viele Bücher – vor allem medizinische Fachbücher meiner Mutter oder Krimis meines Vaters. Dazwischen standen auch andere, und eines stach hervor: „Frost“. SN: Was war das Besondere daran? „Frost“hatte bei uns in der Familie einen eigenartigen Nimbus des Verruchten. Das hat einen Grund: Die Handlung spielt in einem Ort namens Weng, einer der Hauptschauplätze ist ein Gasthaus, wo die Wirtin mit den Gästen ins Bett steigt und Hundefleisch serviert. Meine Großeltern hatten ein Gasthaus im gleichnamigen realen Ort im Pongau, der Bernhard als Vorbild diente. Und da saß er Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre oft beim Essen.
Texter
SN: „Immer im Stüberl“– wie Sie schreiben. Er saß im Stüberl, nicht im Saal. Meine Großmutter hielt ihn anfangs für einen Vorarbeiter einer Firma, die in der Nähe einen Staudamm gebaut hat. Bis 1963 „Frost“veröffentlicht wurde, was die meisten im Ort nicht gleich registriert haben. Spätestens als Bernhard 1968 den Österreichischen Staatspreis bekam, wurde man auch in Weng auf das Buch aufmerksam. Bernhard schrieb ja über die „kleinwüchsigen, schwachsinnigen Menschen von Weng“und „Wegränder, die zur Unzucht verführen“. Da gab es einen regelrechten Skandal, die Gemeindevertretung hat sogar einen Beschwerdebrief ans Ministerium geschrieben. Und irgendwann kam mir die Idee, die Geschichte aufzugreifen und weiterzuspinnen. SN: Sie sind ein Jahr vor dem Tod Thomas Bernhards geboren. Welche Bedeutung hat denn Bernhards Literatur für Sie? Ein Heiliger ist er keiner für mich, aber schon eine Art Vorbild, weil er radikal Neues geschaffen hat. Und weil er in meiner Familie eher geächtet war, lag es für mich nahe, sich positiv mit ihm auseinanderzusetzen. Sich an Bernhard anzulehnen ist immer auch ein riskanter Akt, weil man dann mit ihm verglichen wird. Das erste Kapitel von „Tau“ist noch sehr nah am Vorbild, dann geht mein Roman eigene Wege, auch wenn es immer wieder Parallelen und Anspielungen gibt. SN: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie – aufgewachsen in Goldegg – an Weng denken? Meine Mutter stammt von dort, mein Vater aus Goldegg. Und ich erinnere mich, dass es immer eine gewisse Rivalität zwischen den Orten gab. Wenn ich an Weng denke, denke ich an den Wasserfall über dem Ort, an Schatten und Schnee. Und an das Gasthaus meiner Großeltern. SN: Sie lassen Ihren Ich-Erzähler, in dem wie bei Thomas Bernhard Autobiografisches und Fiktion verschwimmen, sagen, dass ihm „Weng in düsterer Erinnerung“sei und es eine „Affinität zum Dunklen, Feuchten und Modrigen“gebe. Das ist böse. In Weng gibt es andere Schwingungen als in Goldegg, dem Nachbarort, in dem ich aufgewachsen bin. Die Leute sind anders, und das meine ich gar nicht negativ. Aber diese räumliche Beengtheit und Beschränktheit eignete sich gut für die Geschichte, die Thomas Bernhard erzählt hat, und auch für die Geschichte, die ich erzählen wollte. SN: Sie schreiben, dass der Ort „der Ursprung der Unsterblichkeit des Autors“war. Das sah man in Weng zunächst anders. Viele Wenger fühlten sich ausgenutzt und beleidigt. Sie haben „Frost“persönlich genommen und den fiktionalen Rahmen des Romans nicht verstanden. Wenn man die Schilderungen wörtlich nimmt, empfindet man das Buch zwangsläufig als Angriff. Aber man darf einen Roman nie als Tatsachenbericht fehldeuten. SN: Inwieweit änderte sich das? Es gibt immer noch Leute, die ihm das übel nehmen. Und seit Bernhard tot ist, wird – weniger in Weng, aber in vielen anderen Gemeinden – versucht, von seinem Erbe zu profitieren. Jetzt sagen sie: Er war oft und gern bei uns. Jetzt, da Bernhards Werke als Weltliteratur gelten, wird es schon als Auszeichnung gesehen, dass ein Ort bei Bernhard vorkommt. Früher war er verhasst, und heute passiert viel Geschäftemacherei und Verklärung. Ich finde, man sollte mit einem Schriftsteller umgehen wie mit einem Handwerker: Jeder macht seine Arbeit, und wenn sie gut ist, kauft man ihm was ab und erfreut sich daran. Jemanden auf ein Podest zu stellen und anzubeten, das bringt doch nichts! SN: Na ja, es bringt vielleicht Gäste oder wie Sie schreiben: „Jeder Revolutionär wird ein Heimatdichter“? Bei meinen Großeltern wurde über das Thema nicht geredet – und so war’s wohl bei vielen im Dorf. Meine Eltern sahen die Sache schon differenzierter und nicht mehr so dramatisch. Heute ist es komplett anders. Jetzt will man einen Nutzen herausschlagen, Bernhard touristisch verwertbar machen und finanziell davon profitieren. In St. Veit gibt es zum Beispiel einen Thomas-Bernhard-Wanderweg. Und in gewisser Weise habe ich mich da auch eingereiht, als ich „Tau“geschrieben habe. Das ist quasi mein persönlicher Thomas-Bernhard-Wanderweg. Aber einen Skandal wie bei Bernhard hat es nicht gegeben. SN: War das Ihr Plan? Die Idee war, die Eisblöcke, die Bernhard rund um Weng platziert hat, einzuschmelzen – darum auch der Titel „Tau“. Und ich wollte herausfinden, ob und wie sich Weng seit „Frost“verändert hat. Ein bisschen schwang der Gedanke schon mit, damit einen Skandal zu produzieren. Aber ich denke, dass das heutzutage gar nicht mehr möglich ist. SN: Dazu müsste man sich wohl auf ein zeitgenössisches Thema stürzen. Wahrscheinlich würde sogar „Frost“heute keine große Reaktion mehr auslösen. Literatur hat viel von ihrer Macht eingebüßt und wirkt nicht mehr so wie noch vor einem halben Jahrhundert. Und „Frost“war ja nicht nur für die Wenger aufregend, vor allem war es ein radikaler Schnitt in der österreichischen Nachkriegsliteratur, ein verstörendes Ungetüm, das bis heute nachwirkt.
Thomas Mulitzer