Poesie. Kein Album.
Man glaubte sie bereits erstickt unter Tonnen von Krimis und Thrillern, ausgesperrt hinter Schutzwällen aus Youtube und Netflix, begraben unter Dokus und Reality-TV, erschlagen von Hasspostings und sturen Phrasen, da suchte sie sich still und leise eine Nische, klein, aber durchaus im Fokus einer breiteren Öffentlichkeit: In mehr oder weniger anspruchsvolle Songtexte eingebettet wurden ihre ehemals totenbleichen Wangen im Angesicht von Mond und Regen, Nacht und Meer, Haut und Haar allmählich wieder rosarot. Leute lernten plötzlich freiwillig Reime auswendig, füllten Leerstellen mit Interpretation oder wenigstens mit eigenem Empfinden. Derart gestärkt tauchte sie eines trüben Wintertags ebenso selbstbewusst wie unvermittelt an einer Stelle auf, an der man sie niemals vermutet hätte: im Verkehrsfunk. Kein Scherz. Ein kleiner Rückblick: Wie viele andere hatte auch ich eines, meines war dunkelgrün (rosa hätte ich mir gewünscht), fühlte sich an wie eine Raufasertapete (seidige Glätte wäre mir lieber gewesen) und hatte einen simplen Klettverschluss anstelle eines goldenen Schlosses. Mein Poesiealbum war ungeliebt vom ersten Moment an. Trotzdem gab ich es nach Unterrichtsschluss meiner Lehrerin, die als Erste hineinschreiben durfte, bekam es mit handgezeichneten Blüten und einem schönen Reim wieder zurück, überreichte es anschließend den Freundinnen. Lebensweisheiten, Sinnsprüche, Metaphern, so weit das Kinderauge reicht. Irgendwann war der Reigen fertig, doch mehr als die Hälfte des Büchleins blieb leer. Eine Metapher vielleicht für das Leben? Ein Hinweis darauf, dass es Situationen gibt, in denen Worte an ihre Grenzen stoßen, auch wenn man in einer Welt lebt, die zu einem großen Teil aus Worten gemacht ist?
Folge deinen Träumen, sie kennen den Weg. Begegne der Pistole mit einem Blumenstrauß.
Oder aber: Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit’ren Stunden nur.
Banal, eindimensional, überstrapaziert, in mein Poesiealbum verirrte sich kein einziges gutes Gedicht, doch um Literatur soll es hier auch nicht gehen, vielmehr um das Bemühen, nach Formulierungen zu suchen, die sich vom alltäglichen Sprachgebrauch abheben, die – mehr oder weniger – „schön“sind.
An diesem einen Morgen also, in ganz Österreich schneit oder regnet es, die Sonne geht noch lang nicht auf, es ist kalt, es ist dunkel, es ist nass, da bilden sich bereits die ersten Staus. Und erst, als ich vor meinem inneren Auge das Bild einer romantisch erhellten Stadt sehe, rötlich leuchtende Fassaden, glänzende Fenster, da realisiere ich, was die Verkehrssprecherin gerade gesagt hat. Nicht: Sie brauchen heute gute Nerven. Auch nicht: Auf den Verkehrskameras sehen wir einige Probleme. Sondern: Linz ist erhellt von roten Bremslichtern.
Metaphern, Euphemismen, Ironie und wie die Redefiguren alle heißen, bergen Gefahren, mehr denn je ist kritisches Sprachbewusstsein gefordert. Sprache macht etwas mit der Gesellschaft, das kann nicht oft genug betont werden, und der Grat ist schmal. Suche nach Schönheit in der Sprache, der Ausdruck individueller Kreativität versus Verschleierung und Manipulation: Man könnte nun lang darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn durch die bloße Wahl der Formulierung eine verkehrsüberlastete Stadt plötzlich romantisch zu strahlen beginnt.