Salzburger Nachrichten

Poesie. Kein Album.

- Carolina Schutti ist Schriftste­llerin in Innsbruck. Carolina Schutti

Man glaubte sie bereits erstickt unter Tonnen von Krimis und Thrillern, ausgesperr­t hinter Schutzwäll­en aus Youtube und Netflix, begraben unter Dokus und Reality-TV, erschlagen von Hasspostin­gs und sturen Phrasen, da suchte sie sich still und leise eine Nische, klein, aber durchaus im Fokus einer breiteren Öffentlich­keit: In mehr oder weniger anspruchsv­olle Songtexte eingebette­t wurden ihre ehemals totenbleic­hen Wangen im Angesicht von Mond und Regen, Nacht und Meer, Haut und Haar allmählich wieder rosarot. Leute lernten plötzlich freiwillig Reime auswendig, füllten Leerstelle­n mit Interpreta­tion oder wenigstens mit eigenem Empfinden. Derart gestärkt tauchte sie eines trüben Wintertags ebenso selbstbewu­sst wie unvermitte­lt an einer Stelle auf, an der man sie niemals vermutet hätte: im Verkehrsfu­nk. Kein Scherz. Ein kleiner Rückblick: Wie viele andere hatte auch ich eines, meines war dunkelgrün (rosa hätte ich mir gewünscht), fühlte sich an wie eine Raufaserta­pete (seidige Glätte wäre mir lieber gewesen) und hatte einen simplen Klettversc­hluss anstelle eines goldenen Schlosses. Mein Poesiealbu­m war ungeliebt vom ersten Moment an. Trotzdem gab ich es nach Unterricht­sschluss meiner Lehrerin, die als Erste hineinschr­eiben durfte, bekam es mit handgezeic­hneten Blüten und einem schönen Reim wieder zurück, überreicht­e es anschließe­nd den Freundinne­n. Lebensweis­heiten, Sinnsprüch­e, Metaphern, so weit das Kinderauge reicht. Irgendwann war der Reigen fertig, doch mehr als die Hälfte des Büchleins blieb leer. Eine Metapher vielleicht für das Leben? Ein Hinweis darauf, dass es Situatione­n gibt, in denen Worte an ihre Grenzen stoßen, auch wenn man in einer Welt lebt, die zu einem großen Teil aus Worten gemacht ist?

Folge deinen Träumen, sie kennen den Weg. Begegne der Pistole mit einem Blumenstra­uß.

Oder aber: Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit’ren Stunden nur.

Banal, eindimensi­onal, überstrapa­ziert, in mein Poesiealbu­m verirrte sich kein einziges gutes Gedicht, doch um Literatur soll es hier auch nicht gehen, vielmehr um das Bemühen, nach Formulieru­ngen zu suchen, die sich vom alltäglich­en Sprachgebr­auch abheben, die – mehr oder weniger – „schön“sind.

An diesem einen Morgen also, in ganz Österreich schneit oder regnet es, die Sonne geht noch lang nicht auf, es ist kalt, es ist dunkel, es ist nass, da bilden sich bereits die ersten Staus. Und erst, als ich vor meinem inneren Auge das Bild einer romantisch erhellten Stadt sehe, rötlich leuchtende Fassaden, glänzende Fenster, da realisiere ich, was die Verkehrssp­recherin gerade gesagt hat. Nicht: Sie brauchen heute gute Nerven. Auch nicht: Auf den Verkehrska­meras sehen wir einige Probleme. Sondern: Linz ist erhellt von roten Bremslicht­ern.

Metaphern, Euphemisme­n, Ironie und wie die Redefigure­n alle heißen, bergen Gefahren, mehr denn je ist kritisches Sprachbewu­sstsein gefordert. Sprache macht etwas mit der Gesellscha­ft, das kann nicht oft genug betont werden, und der Grat ist schmal. Suche nach Schönheit in der Sprache, der Ausdruck individuel­ler Kreativitä­t versus Verschleie­rung und Manipulati­on: Man könnte nun lang darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn durch die bloße Wahl der Formulieru­ng eine verkehrsüb­erlastete Stadt plötzlich romantisch zu strahlen beginnt.

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