Oh Madonna, wie das knirscht!
Legende. Madonna di Campiglio am frühen Morgen: Die Sonne geht über knirschendem Schnee auf. Madonna am späten Nachmittag: Die Sonne scheint immer noch. Madonna! Immer Sonne. Das Entscheidende ist, dass man sich im Val Rendana die richtige Talseite aussucht.
Der Doppio cremt milde. Müsste nicht eigens erwähnt werden. Das hier ist Italien, wo es an die Berge stößt und südländisches Flair in die Täler greift. Die Kultur des schnellen, aber nie lieblosen Kaffees wird hier ja noch in der schäbigsten Kleintankstelle beherrscht. Und was auf einer Landstraße knapp vor Dimaro im Val di Sole passt, passt auch 1500 Höhenmeter weiter oben. Das Refugio Graffer liegt auf einem sanften Hang über der Baumgrenze auf der Ostseite des Val Rendana unterhalb des Passo Grostè; ein steinerner Rückzugsort, benannt nach Giorgio Graffer, einem Kletterpionier der Brenta-Dolomiten. 2261 Meter. Auf dieser Höhe kommt anderswo der Kaffee aus einem Pulverpackerl. Hier kommt er aus einer mächtig brummenden Maschine. „Warten wir, bis die Sonne untergeht“, sagt Giorgio, nicht Graffer, sondern Giorgio Zoanetti. Länger als auf dieser Alpenvereinshütte scheint die Sonne nirgends in der Gegend. „Lasst euch ruhig Zeit“, sagt Giorgio. Nur mehr wenige Leute sitzen in der Stube. Die Chance auf eine einsame Talabfahrt ist groß. Giorgio gehört zu jener Art von Skilehrern, die niemals hetzen. Er weiß, wann seine Schützlinge müde sind, ohne dass die es sagen müssten. Dazu macht er seinen Job schon zu lang. Im vergangenen Jahr wurde er geehrt, weil er seit 30 Jahren dabei ist. Davor war er auch in Garmisch und in Vail Skilehrer. Aus einem kleinen Ort am Talende stammt er. 61 wird er heuer. Er lacht viel. Und außerdem hat er viel zu erzählen über das Tal, über ein Leben zwischen Tourismus und Naturverbundenheit, den Zwängen des Fortschritts und dem unverzichtbaren Gefühl für die Eigenheit der Region. Die steilen Wiesen seines Hofes mäht er selbst. Das Heu holen andere ab, die es an ihre Kühe verfüttern und dann Spressa produzieren, einen typischen Käse der Region. „Es geht um ein Gleichgewicht“, sagt Giorgio. Er meint nicht nur das auf den zwei Brettln, mit denen es ins Tal geht.
Unten schon im Schatten liegt Madonna di Campiglio. Der Ort glänzt auch ohne Sonne, denn der Name strahlt seit Ende des 19. Jahrhunderts. Das liegt auch daran, dass Kaiser Franz Joseph und Sisi auch schon Quartier bezogen hatten – die Piazza Sissi oder La Stube di Franz sind Überbleibsel. Und freilich zog das Habsburger-Paar auch den Restadel Mitteleuropas ins Tal. Neben Sportgeschäften und Cafés oder mit Michelin-Stern ausgezeichneten Lokalen ist die Dichte nobler Läden hoch. Aufdringlich sind sie nicht. Der Ort glänzt auch für jene, die sich für Skirennsport interessieren. „3Tre“heißen die Rennen auf der Piste Canalone Miramonti. Sie gehört so traditionell zum Rennkalender wie das Lauberhorn in Wengen oder der Ganslernhang in Kitzbühel. Ingemar Stenmark hält hier mit insgesamt elf Siegen den Rekord. Der elegante Schwede passt besser zum Ort als die Wildheit des italienischen Heros Piero Gros oder die Kraftstrotzerei von Marcel Hirscher. Die Rennfahrer sehen im Tal seit ein paar Jahren keine Sonne mehr. Der Slalom von Madonna ist ein Nightrace.
Dennoch wird hier auf den Skipisten vor allem mit der Sonne gutes Geschäft gemacht. Quasi das Gegenteil des Refugio Graffer, der letzten Rast vor der Talfahrt, ist das 5 Laghi, an dem der Tag beginnt. Auf der anderen Talseite liegt es an den Ausläufern des Adamello-Presanella-Massivs.
Auch eine urige Hütte ist es, die sich Moden sympathisch widersetzt. Die grobe Stube könnte auch in einem Innviertler Landwirtshaus stehen. Allerdings schaut man von hier durch riesige Fenster auf die Zacken der Brenta-Dolomiten. Irgendwo dort drüben über dem Tal, in dem Madonna noch schläft, liegt das Refugio Graffer im Schatten. Der Himmel über den Gipfelzacken dahinter bekommt erst allmählich Farbe: „Sunrise-Skiing“heißt das. Sieben Uhr früh ist es. Der Schnee unter dem Plastik der Skischuhe knirscht wie trockene Holzbalken auf einem Dachboden.
Die Piste ist präpariert, sieht aus wie ein weißes Meer mit kleinen Wellen, unberührt. Noch darf keiner fahren. Es ist ohnehin kalt. Und in der Stube des 5 Laghi haben sie ein üppiges Buffet aufgebaut. Für 30 Euro kann man nicht nur als Erster mit der Bahn herauffahren, sondern ausgiebig frühstücken für einen extra langen Skitag. Und vor allem kann man der frühen Sonne zusehen, wie sie hinter der Brenta-Gruppe den Kampf gegen die Nacht gewinnt. Das Refugio Graffer liegt immer noch weit entfernt im Schatten bei den ersten Schwüngen über die jungfräuliche Piste. Ein paar gehen es gemütlich an. Bei ein paar anderen brechen Kindheitsinstinkte durch: Wie oft gehen sich Auf- und Abfahrt aus, bevor die Lifte offiziell aufsperren? Wer Gas gibt, schafft es vier Mal. „Dann seid ihr schon in Form für den Tag“, sagt Giorgio. Bei der ersten Abfahrt über die frische Piste in den ersten Sonnenstrahlen weiß nur er, dass der Tagen zehn Stunden dauern wird, und auf der anderen Talseite, in den letzten Strahlen der jetzt noch junge Sonne, wird er enden.