Die Bevölkerung des krisengeschüttelten Landes leidet Hunger und Not. Die Wut wächst. Ein Lokalaugenschein.
Hilfspakete bleiben aus oder kommen mit großer Verspätung an. Die Bevölkerung des krisengeschüttelten Venezuelas leidet Hunger und Not. Die Wut wächst. Ein Lokalaugenschein.
Rosíris Toro hat gewartet. Und gewartet. Zuerst 30 Tage. Die sind üblich. Dann 35. Da wunderte sie sich schon sehr, wo denn der graue Karton bleibt, den die 50-Jährige wie Millionen andere Venezolaner hasst – und ohne den sie nicht leben kann. Mit dem Hunger wuchs die Wut. 46 Tage hat es diesmal gedauert, bis der begehrte Lebensmittelkarton von der Regierung geliefert wurde. „Unverschämt ist das“, sagt die energische Frau so laut, dass es auch noch die Nachbarn hier in Petare, dem gefährlichsten Slum von Venezuelas Hauptstadt Caracas, hören können. „Die Regierung spielt mit unserer Gesundheit.“
Es ist Tag zwölf einer neuen Zeitrechnung in Venezuela. Das Land, das Hugo Chávez einst in ein sozialistisches Paradies verwandeln wollte, versucht gerade, sich seines Machthabers Nicolás Maduro zu entledigen. Der ist hauptverantwortlich dafür, dass sich der einst reiche Ölstaat in einen verheerenden Sozialfall verwandelt hat.
Mit dem jungen Juan Guaidó steht plötzlich ein Mann da, der Maduro das Amt streitig macht, der von 40 Staaten auf der Welt als legitimer Repräsentant Venezuelas anerkannt wird und der doch ein König ohne Land ist. Noch kontrolliert Maduro die Institutionen des südamerikanischen Landes, vor allem das Militär. Und noch schickt er die Lebensmittelkartons.
Rosíris Toro greift zum Messer, trennt das Klebeband ab und holt heraus, was ihr Überleben sichern soll: Thunfisch aus Ecuador, Ketchup aus Brasilien, Bohnen aus Kanada, Nudeln aus der Türkei, Reis und Maismehl aus Mexiko. Kein Fleisch. Früher war wenigstens ab und zu auch Hühnchen dabei. Verteilt wer- den die Kartons von den „Lokalen Komitees zur Versorgung und Produktion“(CLAP), die Maduro vor knapp drei Jahren gründete, um die Versorgungskrise vor allem der Ärmsten zu lindern. Sie sind noch immer die wichtigste Klientel der regierenden Chavisten.
Inzwischen sind laut Hilfsorganisationen rund 60 Prozent der venezolanischen Familien von den CLAP-Kartons abhängig. Trotzdem magern die Venezolaner immer mehr ab. Die drei wichtigsten Universitäten haben erhoben, dass 64 Prozent der Menschen im Schnitt elf Kilogramm Gewicht verloren haben.
„Früher kamen die CLAP-Pakete in kürzeren Abständen“, erzählt Toro, die in Petare eine Nachbarschaftsinitiative leitet und nie eine Anhängerin der Chavisten war. „Ohne die Essenspakete müssten wir verhungern, aber auch so reicht es nicht wirklich.“
Denn selbst wenn es einmal in den Supermärkten etwas zu kaufen gibt, kann es kaum jemand bezahlen, weil die Inflation das Geld frisst. Ein Kilogramm Fleisch kostet einen halben Monatslohn, ein Sechserpack Windeln vier Monatslöhne.
Auch die Lebensmittel für die CLAP-Kisten muss Venezuela im Ausland einkaufen, weil es selbst nicht mehr in der Lage ist, Grundnahrungsmittel zu produzieren. Nach 20 Jahren Chavismus und vor allem fünf Jahren Maduro an der Staatsspitze lesen sich Venezuelas Parameter wie die eines Landes nach einem langen Krieg. Die Wirtschaftskraft der einst reichen Nation hat sich in den vergangenen sechs Jahren halbiert, sie schrumpfte allein 2018 um 18 Prozent.
Es gibt keine Medikamente, keine Nahrungsmittel. Das Geld ist nichts mehr wert, die Gewalt ist nirgends in Lateinamerika so schlimm wie in Venezuela. Kein anderes Land der westlichen Hemisphäre hat jemals in so kurzer Zeit einen so tiefen Absturz hingelegt. Wer kann, flieht. Drei Millionen Venezolaner haben das Land zuletzt verlassen. „Diese Typen haben alles zerstört“, sagt Rosíris Toro über Maduro und seine Regierung.
Die Zerstörung ist in ihrem Stadtviertel sichtbar. Wobei Stadtviertel nicht ganz der treffende Begriff ist. Petare liegt auf einem Hügel im Osten von Caracas und ist mit knapp zwei Millionen Einwohnern einer der größten Slums Lateinamerikas. Nach Jahren der Mangelwirtschaft herrscht hier Chaos. An den Straßenrändern türmt sich der Abfall, weil die Müllabfuhr nicht mehr kommt. Menschen klauben das letzte Essbare aus den Resten. Überall stehen Autowracks. Es gibt keine Ersatzteile mehr. Ein Reifen kostet umgerechnet 75 Euro, der Mindestlohn liegt aber nur bei sechs Euro, das sind 18.000 Bolívares.
An den Haltestellen bilden sich lange Schlangen, doch Busse fahren kaum noch, weil auch sie nicht repariert werden können. Lkw oder Viehtransporter dienen als Ersatz. Wasser und Strom sind rationiert.
Der völlige Zusammenbruch staatlicher Serviceleistungen habe die Regierung viel Zustimmung gekostet, sagt Toro. „Gerade in Vierteln wie Petare, die über Jahre hinweg Bastionen der chavistischen Regierung waren.“
Als Juan Guaidó am 23. Jänner in Caracas zu Massenkundgebungen aufrief, gingen auch in Petare die Menschen auf die Straße. Die Regierung schickte die gefürchtete Spezialeinheit der Polizei und ließ die Proteste niederschlagen. Es gab Dutzende Tote. Doch der Druck auf die Regierung steigt weiter. Durch die jüngsten US-Sanktionen fehlen dem Land rund 300 Millionen Dollar täglich in der Staatskasse. Geld, das half, um die Lebensmittel für die CLAP-Kartons in der ganzen Welt zusammenzukaufen und Benzin zu importieren. Schon in den kommenden Tagen könnte der Treibstoff ausgehen.
Die Konsequenzen wären fatal. Der Verkehr würde zusammenbrechen und in der Folge auch die letzte noch vorhandene Versorgung, weil nichts mehr transportiert werden kann.
Rosíris Toro ahnt, was das bedeutet. „Dann kommen die CLAP-Kartons noch unregelmäßiger und wir haben noch mehr Hunger“, sagt sie. „Aber wenn wir diesen Albtraum nur auf diese Art beenden können, ist es das wert.“Sie und die große Mehrzahl des venezolanischen Volks hätten den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gebe. „Wir müssen Maduro jetzt loswerden, sonst schaffen wir das nie mehr.“Davon ist Toro überzeugt.