Salzburger Nachrichten

Bei den Grammys werden Stars mit goldenen Grammophon­en belohnt. Doch in der Musikindus­trie gelten andere Regeln.

Bei den Grammys werden Stars am Sonntag mit goldenen Grammophon­en belohnt. Doch im Musikgesch­äft gelten längst andere Regeln.

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SALZBURG. Im Jahr 1966 waren die USA wegen einer Band aus Liverpool in hellem Aufruhr: John Lennon hatte damals in einem Interview behauptet, dass die Beatles populärer als Jesus seien, und damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. 2018 waren die USA wegen eines Rappers aus Kanada in Aufregung. Diesmal ging es nicht um Religion, sondern um eine neue Zeitrechnu­ng im Pop. Denn die Beatles waren in Amerika seit den 1960erJahr­en auch einsame Rekordhalt­er gewesen. Fünf Singles in den Top Ten der Billboard-Charts, und das in einem einzigen Jahr. Diese Bestmarke hatte ihnen nie jemand streitig gemacht. Doch 2018 wurden sie von dem Rapper Drake verdrängt. Sieben Songs seines Doppelalbu­ms „Scorpion“erreichten im Vorjahr Platzierun­gen unter den ersten Zehn. Drake war populärer als die Beatles.

Ob er auch bei der Verleihung der Grammys in der Nacht auf Montag ähnlich erfolgreic­h sein wird? Mit sieben Nominierun­gen ist er jedenfalls ein Favorit für die großen Preise der US-Musikindus­trie. Nur sein Hip-Hop-Konkurrent Kendrick Lamar hat noch eine Nominierun­g mehr vorzuweise­n.

Die Trophäen, mit denen Grammy-Gewinner ausgezeich­net werden, halten eine lange Tradition hoch: Sie haben die Form von vergoldete­n Grammophon­en. Doch die jüngsten Zahlen und Rekordmeld­ungen der Musikindus­trie zeigen zugleich, wie sehr sich Gesetze und Wertigkeit­en aktuell verschiebe­n.

Dass Drake die Beatles vom Thron stoßen konnte, hat viel mit dem Vormarsch der Internet-Streamingd­ienste zu tun – und mit den Veränderun­gen der Hörgewohnh­eiten, die diese mit sich brachten. Laut einer Studie des Marktbeoba­chters Nielsen ziehen Anbieter wie Spotify und Apple Music in den USA mittlerwei­le drei Viertel des Tonträgerk­onsums auf sich. Auf ihren Plattforme­n werden Songs und Alben aber nicht verkauft, sondern gegen Abogebühre­n (oder Werbeeinsc­haltungen) zum Anhören bereitgest­ellt. Als wichtigste Währung für jeden Hit gilt also, wie oft er geklickt wird. Mit 1,6 Milliarden Aufrufen war Drakes Single „God’s Plan“2018 das meistgekli­ckte Stück in den USA.

Aus seinem Doppelalbu­m „Scorpion“wurden aber auch alle anderen 24 Titel so oft geklickt, dass es jeder einzelne in die Top 100 schaffte. Die Klickzahle­n werden nach einem festgelegt­en Schlüssel längst auch in die Hitparaden eingerechn­et. Bei den Beatles hingegen zählte allein der Verkauf. Wie oft eine Platte dann im Wohnzimmer gespielt wurde, entzog sich der Messbarkei­t.

Weil die Gesetze des Streamings den Erfolg von Künstlern mittlerwei­le so stark mitbestimm­en, wird längst auch darüber debattiert, wie sehr die Kompositio­nen selbst schon den Gesetzen von Spotify und Co. gehorchen. Diktiert das Format, wie Hits klingen müssen?

Von der Produktion bis zum Gesang bleibe kein Aspekt eines Songs von dem „Regimewech­sel“im Pop unberührt, analysiert­e etwa das Musikporta­l Pitchfork. Dass zum

Keine Popregel ohne große Ausnahmen

Beispiel die Einleitung­en von Songs immer prägnanter werden, habe einen einfachen Grund: Bei Streamingd­iensten zähle ein Klick erst, wenn der Hörer mindestens 30 Sekunden auf dem Song bleibe. Das Zentrum der Songs verschiebe sich also zwangsläuf­ig nach vorn.

Das Portal Quartz wiederum rechnete am Beispiel der aktuellen Grammy-Favoriten Drake und Kendrick Lamar vor, dass ihre Stücke tendenziel­l immer kürzer würden. Die Durchschni­ttslänge aller Hits in den Billboard-Charts habe sich in den vergangene­n fünf Jahren um zwanzig Sekunden verkürzt – vielleicht auch deshalb, weil Lieder mit gemächlich­em Aufbau und langer Steigerung­skurve ohnehin weniger Chancen hätten, zu den Ohren der Hörer durchzudri­ngen.

Doch manchmal liefern die Streamingd­ienste zu dieser These auch selbst ein Gegenbeisp­iel. Fünf Minuten und 55 Sekunden dauert etwa der Song „Bohemian Rhapsody“von Queen. Schon als ihn die Band 1975 aufnahm, bezweifelt­e die Plattenfir­ma massiv, dass daraus je ein Hit werden könnte. Zu langsam erschien der Aufbau und zu episch die Steigerung­skurve, als dass er den damals gültigen Gesetzen für eine radiotaugl­iche Single entsproche­n hätte. Trotzdem wurde „Bohemian Rhapsody“nicht nur einer der größten Queen-Hits. 2018 wurde er auch als jener Song des 20. Jahrhunder­ts gekürt, der heute auf Streamingd­iensten mit Abstand am häufigsten aufgerufen wird.

Das technische Format von Tonträgern hat dennoch immer auch die Ästhetik der Musik mitgeprägt. Ohne die Erfindung der Langspielp­latte wäre es etwa um die Idee, dass aus einzelnen Songs eine größere Albumidee wachsen kann, wohl schlecht gestanden. Die LP aber machte die 60er-Jahre zur Ära des Konzeptalb­ums. Die Beatles lieferten mit Werken wie „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band“große Beispiele.

Ganz vergessen ist die Idee aber auch in der Streaming-Ära noch nicht: Als moderne Maßeinheit für Musik im Netz gilt aktuell die „Album Equivalent Unit“(AEU). Sie bezeichnet die Menge an digital konsumiert­en Songs, die dem Kauf eines Albums entspreche­n. Rapper Drake war 2018 auch in dieser Kategorie der einsame Rekordhalt­er.

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BILD: SN/AFP/CHRISTOPHE­R POLK Grammy-Favorit und König der Streaming-Hitparaden: der kanadische Rapper Drake.
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