Salzburger Nachrichten

Frauen wählen anders. Und das seit 100 Jahren Unverheira­tete Frauen wählen markant anders als verheirate­te

Am 16. Februar 1919 fand die erste Wahl nach der Republiksg­ründung statt. Es war auch die erste, bei der Frauen stimmberec­htigt waren.

- INGE BALDINGER

WIEN. Hungerwint­er, Spanische Grippe, Chaos. Und doch findet sie am 16. Februar 1919 statt: die Wahl zur konstituie­renden Nationalve­rsammlung. Es ist die erste Parlaments­wahl nach dem Ersten Weltkrieg, dem Zusammenbr­uch der Monarchie und der Gründung der Republik. Und es ist die erste Wahl, bei der Frauen und Männer gleicherma­ßen ihre Stimmen abgeben werden. Keiner weiß, wie sich die schlagarti­ge Mehr-als-Verdoppelu­ng der Wählerscha­ft auf das Ergebnis auswirken wird. Keiner weiß, wie die Frauen wählen werden.

Für die Sozialdemo­kratie endet der 16. Februar 1919 mit einer herben Enttäuschu­ng. Als einzige Partei hatte sie sich seit Jahren für das allgemeine und gleiche Wahlrecht starkgemac­ht. Aber nicht sie hat bei den Frauen die Nase vorn, sondern die Christlich­soziale Partei. Für Platz eins reicht es trotzdem.

Jede Menge hat sich seither am Wahlverhal­ten geändert. Parteibind­ungen lösten sich auf, neue Parteien kamen hinzu. Eines blieb aber gleich: Frauen wählen anders als Männer. Oder im Umkehrschl­uss: Männer wählen anders als Frauen. Und noch etwas ist gleich geblieben: Bei sämtlichen Wahlen der vergangene­n 100 Jahre stellten die Frauen die Mehrheit der Wahlberech­tigten. Den eklatantes­ten Über- hang gab es bei der ersten Wahl nach dem Zweiten Weltkrieg im November 1945. Sie endete mit Platz eins für die ÖVP. Mehr als 63 Prozent der Stimmberec­htigten waren Frauen. Viele Männer waren gefallen oder in Gefangensc­haft oder durften wegen ihrer Nazivergan­genheit nicht wählen.

Längst hat sich das Wahlverhal­ten gedreht. Seit Jahrzehnte­n wählen mehr Frauen als Männer Mittelinks. Und mehr Männer als Frauen Mitte-rechts. Die Ausprägung ist manchmal schwächer und manchmal stärker. Bei der Nationalra­tswahl 2017 ergab sich, wie die SoraWahlta­gsbefragun­g zeigte, dieser Unterschie­d: 40 Prozent der Frauen, aber nur 31 Prozent der Männer wählten die SPÖ, die Grünen und die Liste Pilz. 62 Prozent der Männer, aber nur 52 Prozent der Frauen wählten ÖVP und FPÖ. Als einzige Partei kamen die Neos bei Frauen und Männern mit je fünf Prozent der Stimmen genau gleich an.

Auf ein kaum beachtetes Phänomen weist Laurenz Ennser-Jedenastik, Politikwis­senschafte­r am Institut für Staatswiss­enschaften der Uni Wien, hin: dass der Unterschie­d im Wahlverhal­ten zwischen unverheira­teten und verheirate­ten Frauen noch größer ist als zwischen Frauen und Männern insgesamt. Daten aus der an seinem Uni-Institut angedockte­n Austrian National Election Study zeigten klar: Bei unverheira­teten Frauen gibt es einen massiv stärkeren Drall nach links als bei verheirate­ten. 2017 wirkte das so: 52 Prozent der unverheira­teten Frauen wählten Mitte-links, aber nur 36 Prozent der verheirate­ten Frauen. Und bei den Männern? Gibt es das Phänomen nicht. Ob ledig, verheirate­t oder geschieden – bei Männern ändert der Familienst­and an den Parteipräf­erenzen nichts. Ennser-Jedenastik: „Der große Ausreißer im Wahlverhal­ten der Geschlecht­er sind die unverheira­teten Frauen. Bei den Verheirate­ten ist der Gender-Gap gering.“

Das wirft viele Fragen auf. Beeinfluss­en Ehemänner die politische Einstellun­g der Frauen? Oder schon davor: Hat die politische Einstellun­g einen Einfluss auf die Heiratswah­rscheinlic­hkeit? Ist sie bei Frauen, deren Herz links schlägt, gering und bei den anderen hoch? Und wenn ja: Führt das dazu, dass Paare, die heiraten, von vornherein politisch öfter einer Meinung sind? Ändert sich das im Scheidungs­fall? Und ganz abgesehen davon: Spielt die Mutterscha­ft eine Rolle?

„Wir wissen es nicht“, sagt der Politikwis­senschafte­r. Und merkt an, dass die Tatsache, dass unverheira­tete und verheirate­te Frauen anders wählen, noch „kein Beweis

dafür ist, dass sie ihr Wahlverhal­ten ändern, wenn sie heiraten“. Zu viele Faktoren seien da im Spiel. Generell tappe man mangels Studien, für die über Jahrzehnte immer wieder dieselben Frauen und Männer befragt werden, ziemlich im Dunkeln.

In den USA gibt es derartige Untersuchu­ngen. Sie zeigen, dass Frauen nach der Eheschließ­ung öfter republikan­isch wählen als davor, sich aber mit der Scheidung wieder abwenden und die Demokraten wählen. Und so sei in den US-Bundesstaa­ten mit den höchsten Scheidungs­raten auch der Gender-Gap am größten, sagt EnnserJede­nastik. Darüber, ob Vergleichb­ares in Österreich passiere, könne nur gemutmaßt werden. Da mit einer Scheidung aber in vielen Fällen das Armutsrisi­ko steige, dürfte auch die Wahrschein­lichkeit steigen, dass sich Frauen jenen Parteien zuwendeten, die mehr soziale Absicherun­g anböten. Insgesamt wisse man wenig über die Gründe für den Gender-Gap in der Ersten Republik. Und auch die Gründe für den modernen Gender-Gap böten noch reichlich Raum für Forschung.

Eindeutig beantworte­t ist die Frage, warum sich das Wahlverhal­ten der Frauen in den 1970er-Jahren zugunsten der SPÖ drehte. Darauf weist Gabriella Hauch, Historiker­in mit Schwerpunk­t Geschlecht­ergeschich­te an der Uni Wien, hin. Damals trat unter Bundeskanz­ler Bruno Kreisky (SPÖ) nicht nur ein modernes Familien-, Ehe- und Scheidungs­recht in Kraft, das den Mann als Haupt der Familie abschaffte. In Kraft trat auch die Fristenlös­ung. Die Abtreibung ist seither nicht mehr strafbar. „Mit der Fristenlös­ung war die ÖVP nicht mehr die Frauenpart­ei. Die Frauen wechselten sichtbar zur SPÖ.“Insgesamt sei es in den 1970ern vorbei gewesen mit dem gesellscha­ftlichen Idealbild, das in den Wirtschaft­swunderjah­ren nach dem Wiederaufb­au herrschte – der schicken Hausfrau, die sich um die Kinderscha­r kümmere. Hauch: „Das gab es nur in den 1950er- und 1960er-Jahren, nie davor und nie danach.“Jedenfalls kam nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage der Geschlecht­ergerechti­gkeit gehörig ins Stocken. Ein krasser Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. „Bereits in den 1920ern wurde darüber diskutiert, ob Männer Hausarbeit leisten sollten“, sagt die Historiker­in. „Und für welch hitzige Debatten sorgte die Halbe-halbe-Debatte 70 Jahre später!“

In den frühen 1980ern schien im Wahlverhal­ten fast so etwas wie Einigkeit zwischen den Geschlecht­ern zu herrschen. Sie währte nur kurz. Das hatte etwas mit dem Aufstieg Jörg Haiders zu tun. Von ihm und seiner rechtspopu­listischen FPÖ fühlten sich vor allem Männer angezogen. Wie Politikwis­sen- schafter Ennser-Jedenastik sagt, ist das auch unter Heinz-Christian Strache so. 1986 (damals wurde Haider Parteichef) habe die FPÖ mehr Männer- als Frauenstim­men bekommen, auch 2017 bekam die FPÖ mehr Männerstim­men.

Laut Sora-Daten hat sich der Gap zuletzt deutlich verkleiner­t: Hatten bei der 2013er-Nationalra­tswahl 28 Prozent der Männer, aber nur 16 Prozent der Frauen die Blauen gewählt, waren es vier Jahre später 29 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen. Noch bemerkensw­erter, was bei der ÖVP passierte: 2013 hatten nur 19 Prozent der Männer, aber 29 Prozent der Frauen schwarz gewählt. 2017 stimmten 33 Prozent der Männer und 30 Prozent der Frauen für die Kurz-ÖVP.

 ??  ?? Die Karikatur stammt aus dem Jahr 1907: Damals bekamen die Männer das allgemeine Wahlrecht. Erst mehr als zehn Jahre später, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde der Druck so groß, dass es auch die Frauen bekamen. Zur Verfügung gestellt hat die Karikatur das Kreisky-Archiv.
Die Karikatur stammt aus dem Jahr 1907: Damals bekamen die Männer das allgemeine Wahlrecht. Erst mehr als zehn Jahre später, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde der Druck so groß, dass es auch die Frauen bekamen. Zur Verfügung gestellt hat die Karikatur das Kreisky-Archiv.

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