Nigeria wählt und hat doch keine Wahl
Warum das bevölkerungsreichste Land Afrikas keinen Weg aus seiner Krise findet.
Nirgendwo in Afrika klaffen Anspruch und Realität so auseinander wie in Nigeria, dem mit rund 180 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Staat des Kontinents. Während seine Politiker gerade vor Wahlen wie an diesem Wochenende gern zu Superlativen greifen, um das Potenzial des Landes zu beschreiben, ist die Wirklichkeit eine ganz andere. Entsprechend desillusioniert sind die meisten der 84 Millionen Nigerianer, die sich registriert haben, um in der sechsten Wahl seit dem Ende der Militärherrschaft vor 20 Jahren mit ihrer Stimme die fragile Demokratie zu konsolidieren.
Die wirtschaftlichen Zahlen belegen eindrucksvoll das Versagen der Regierung um den konservativen Präsidenten Muhammadu Buhari, die 2015 mit großer Hoffnung überraschend gewählt worden war. Nigeria ist zwar der weltweit achtgrößte Ölproduzent. Doch seine Raffinerien sind derart marod, dass Treibstoff importiert werden muss.
Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 60 Prozent der Erdöleinnahmen in privaten Taschen verschwinden – Hunderte Milliarden Dollar seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1960. Daran hat sich auch unter Buhari wenig geändert. Ebenso ernüchternd ist, dass der selbst ernannte afrikanische Wirtschaftsriese mit einem Durchschnittseinkommen von etwa 200 Dollar im Monat noch leicht unter dem afrikanischen Durchschnitt rangiert.
Rund 80 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze von 1,90 Dollar pro Tag. Mangelnder Strom macht das Leben nicht gerade einfacher. „Die fehlende flächendeckende Stromversorgung gilt als eines der größten Hindernisse für Investitionen und ist ein großes Hemmnis für die Entwicklung des Landes“, konstatiert Christian Wessels, Geschäftsführer des Beteiligungsunternehmens Sunray Ventures in Lagos.
Dabei hatte Buharis wirtschaftlicher Wachstumsplan zum Amtsantritt vor vier Jahren wie üblich große Ziele verfolgt. So sollte Nigerias massives Infrastrukturdefizit durch den Bau von Straßen und Eisenbahnen bekämpft werden, die Industrialisierung sollte mehr als 15 Millionen neue Jobs schaffen.
Davon ist Nigeria laut Adekeye Adebajo, Direktor des Institute for Pan-African Thought and Conversation in Johannesburg, meilenweit entfernt. Wenn etwas schnell wachse, dann sei es die Arbeitslosigkeit, die von 8,2 auf mehr als 23 Prozent gestiegen sei, sagt er. Zehn Millionen Jugendliche haben keinen Job. Die Auslandsinvestitionen sind das dritte Jahr hintereinander gefallen und liegen inzwischen sogar hinter denen des viel kleineren Ghana.
Ebenso schnell wie die Arbeitslosigkeit steigt nur die Bevölkerung – jährlich um etwa 2,5 Prozent. Inzwischen kommen in Nigeria bei 7,5 Millionen Geburten mehr Menschen pro Jahr auf die Welt als in der gesamten EU. Im Schnitt bekommen nigerianische Frauen noch immer 5,6 Kinder – kaum weniger als 1960. Als Folge ist die Bevölkerung extrem jung – rund die Hälfte der Nigerianer ist jünger als 18 Jahre. Das bildet ein enormes Nachschubpotenzial für die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Norden des Landes.
Wenig deutet derzeit darauf hin, dass Nigerias extremes Bevölkerungswachstum gestoppt werden könnte. Laut jüngsten UNO-Prognosen dürfte das Land bis 2050 mit 440 Millionen Menschen hinter Indien und China weltweit auf Platz drei liegen. Niemand weiß, wie o viele Menschen ernährt werden sollen, zumal es schon jetzt immer wieder Hungerkrisen gibt.
Symptomatisch ist die Entwicklung der Wirtschaftsmetropole Lagos, die von 300.000 Bewohnern in den 1950er-Jahren auf geschätzt 20 Millionen förmlich explodiert ist, weil viele Menschen auf dem Land nicht mehr überleben können.
Entsprechend hoch dürfte der Druck auf Europa bleiben. 2017 bildeten Menschen aus Nigeria nach den Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan die viertgrößte Gruppe von Asylbewerbern in der EU.
Von der Politik ist kaum Besserung zu erwarten. Beide Kandidaten stammen aus dem muslimischen Norden und sind den Wählern hinlänglich bekannt. Der Herausforderer Atiku Abubakar, ein reicher und leutseliger Geschäftsmann, der einst die Zollbehörde leitete, mit schweren Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hat und auch schon Vizepräsident war, trat bei jeder Wahl seit 1999 an; Präsident Buhari, ein Ex-General, nahm an jeder Wahl seit 2003 teil. Beide sind über 70 Jahre als und stehen der Aufgabe gegenüber, eine sehr junge Wählerschaft zu erreichen, die zur Hälfte christlich ist.
Beobachter rechnen mit einem knappen Wahlausgang. Sollte der Amtsinhaber Buhari verlieren und sich weigern, Abubakars Sieg anzuerkennen, könnte Gewalt drohen.