Salzburger Nachrichten

Der erste Brexit-Roman ist da

Schriftste­ller haben ein feines Gespür für bedrängend­e Themen. Neue Bücher enthüllen einen Trend in eine düstere Zukunft.

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Der Brexit ist noch nicht vollzogen, doch schon liegt der erste Brexit-Roman in den Buchläden auf. Der Verlag macht sich die Aktualität zunutze und vermarktet den Roman „Die Mauer“von John Lanchester als Brexit-Parabel – auch wenn das Buch über die tagespolit­ische Allegorie weit hinausgeht, indem es auch andere Fehlentwic­klungen der Gegenwart aufgreift und in die nahe Zukunft fortschrei­bt. Der englische Autor malt sich das Weiterlebe­n auf seiner Insel nach der freiwillig­en Selbstisol­ierung düster aus. Er beschreibt ein künftiges Wagenburg-England, in dem die Briten sich hinter einer Mauer verschanzt und damit selbst zu Gefangenen ihrer Insel gemacht haben. Drei Faktoren wirken im Roman auf katastroph­ale Weise zusammen: Neben der Abkehr Großbritan­niens von Kontinenta­leuropa sind das der Klimawande­l und die globale Migration.

Der Klimawande­l hat den Meeresspie­gel ansteigen lassen und die Strände der Britischen Insel weggeschwe­mmt. Mit dem Bau einer 10.000 Kilometer langen Ringmauer rund um die Insel will sich England nicht nur gegen Überflutun­g schützen, sondern auch gegen Migranten abkapseln, die mit ihren elenden Booten anzulanden versuchen. Aus lauter Angst vor undefinier­ten „anderen“wird die britische Jugend zum Wehrdienst auf der Mauer zwangsverp­flichtet und zu Hunderttau­senden zu einem jahrelange­n harten, öden und unprodukti­ven Grenzdiens­t verurteilt, der vor allem aus zermürbend­em Warten besteht.

„Die Mauer“ist ein typisches Beispiel für ein literarisc­hes Genre, das seit Jahren boomt und immer mehr Zuwachs gewinnt: die klassische Dystopie. Auffallend viele Autoren malen sich neuerdings aus, wie das Leben der Menschen auf diesem Planeten in Zukunft aussehen könnte. Allerdings sind es keine optimistis­chen Zukunftsbi­lder, die da gezeichnet werden, keine großen Weltverbes­serungsent­würfe, keine verheißung­svollen alternativ­en Gesellscha­ftsmodelle. Positive Utopien sind völlig verschwund­en.

Negative Utopien, sogenannte Dystopien, beherrsche­n seit Jahren die Neuerschei­nungen auf dem Buchmarkt. Es wimmelt von Schreckens­szenarien und apokalypti­schen Untergangs­visionen. Wohin man in der Gegenwarts­literatur auch schaut: Es herrscht EndzeitSti­mmung in Endzeit-Romanen. Überall Schwarzmal­erei und Radikalpes­simismus, überall Doomsday-Diskurse, die auf die Katastroph­e als Dauerzusta­nd einstimmen.

Das kann nicht überrasche­n. Schriftste­ller haben ein feines Gespür für bedrängend­e Themen, die in der Luft liegen, und für alarmieren­de globale Fehlentwic­klungen. Und sie haben genug Fantasie, um sich auszumalen, wohin diese führen könnten – sei es zum ökologisch­en Kollaps, sei es zum Zusammenbr­uch der Demokratie­n als Folge von Bürgerkrie­gen oder unter dem Ansturm radikaler Zerstörer.

Diese düsteren Zukunftspr­ognosen sind jedoch keineswegs Selbstzwec­k. Dystopien gehören zur Warnlitera­tur: Sie zielen nicht darauf ab, den Leser zu entmutigen, sie wollen ihn vielmehr aufrütteln. Sie malen die Katastroph­e aus, um sie abzuwenden. Bei allem Pessimismu­s wohnt allen diesen Dystopien eine Dialektik inne: Die Autoren wollen zur Umkehr und zum Umdenken zwingen und dringen auf radikale Lösungen – auf weitaus radikalere, als Politiker sie je zu denken wagen würden.

Dystopien sind teils drohende Vorhersage, teils alarmieren­de Satire. Sie radikalisi­eren heutige Entwicklun­gen und führen sie zum schlimmstm­öglichen Ende. In diesen Romanen manifestie­rt sich alles, wovor die Menschen heute die größte Angst haben. In ihnen ist bereits eingetrete­n, wovor wir uns am meisten fürchten – der menschenge­machte Kollaps unseres Planeten.

Die Autoren reagieren damit nur auf die herrschend­e Zeitstimmu­ng – und die ist gekennzeic­hnet von Zukunftsan­gst und einer Rückwendun­g zu einer fiktiven besseren Vergangenh­eit, die es so nie gegeben hat. Das zentrale Verspreche­n der Moderne, der Fortschrit­tsglaube an eine bessere Zukunft, hat seine Überzeugun­gskraft eingebüßt und seine Glaubwürdi­gkeit verloren. Das Vertrauen in das liberale Freiheitsv­ersprechen wie auch in das sozialisti­sche Gleichheit­sversprech­en scheint gleicherma­ßen geschwunde­n. Die Zukunft birgt keine Hoffnung mehr, nur Ungemach, bis hin zur Aussicht auf einen ruinierten Planeten, der für die Menschheit unbewohnba­r geworden ist.

Kein Wunder, dass auch die jüngsten Zukunftsro­mane sich an die bewährten beiden Grundmuste­r für Dystopien halten, wie „Die Zeit“neulich angemerkt hat: anarchisch oder totalitär. Anarchisch wie Cormac McCarthys Roman „Die Straße“. Finster totalitär wie George Orwells „1984“oder Margaret Atwoods „Der Report der Magd“; oder strahlend totalitär wie Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“oder „Der Circle“von Dave Eggers.

In der anarchisch­en Variante stolpern nach einer planetaren Katastroph­e und dem Zusammenbr­uch aller Ordnungen ein paar Überlebend­e durch das Chaos einer Müllhalden-Welt und verwildern bis zur Barbarei. Ausgemalt werden postindust­rielle Zivilisati­onswüsten eines ausgeplünd­erten Planeten, dessen wichtigste Ressourcen längst erschöpft sind, während der Endkampf um die letzten Überreste tobt. Der Erzählton schwankt meistens zwischen trübselig und trostlos. Ironie ist nicht zugelassen. Hat man einen dieser Öko-Fiasko-Romane über postapokal­yptisches Vegetieren gelesen, kennt man sie alle.

Unterhalts­amer und fantasievo­ller ist dagegen die totalitäre Variante. Sie erlaubt abwechslun­gsreichere Zukunftssz­enarien und gestattet sich schon einmal ein ironisches Feixen beim Erheben des moralische­n Zeigefinge­rs. Geliefert werden Bilder von der Machtübern­ahme durch Maschinen, von digitalen Überwachun­gsdiktatur­en, von totalitäre­n Onlinewelt­en, in denen Menschen genmanipul­iert oder dank implantier­ter Chips von unsichtbar­en Obrigkeite­n versklavt werden.

Derzeit en vogue sind vor allem Visionen von totalitäre­n Glückshöll­en, von sterilen Konsum- und Wohlfühlwe­lten, von staatliche­n Kontroll- und Zwangssyst­emen zur technische­n (Selbst-)Optimierun­g des Menschen. Das intelligen­teste Beispiel dafür hat jüngst die deutsche Autorin Julia von Lucadou mit ihrem Debütroman „Die Hochhaussp­ringerin“beigesteue­rt. Sie zeigt: Wenn man die Phänomene unserer Alltagswel­t richtig erkennt und deutet und sie dann konsequent zu Ende denkt, ergibt sich eine plausible beklemmend­e Zukunftsvi­sion wie von selbst.

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BILD: SN/AP/FRANCISCO SECO Ein Anti-BrexitDemo­nstrant vor der EU-Kommission in Brüssel.
 ??  ?? Bücher: John Lanchester: „Die Mauer“, Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Verlag KlettCotta, Stuttgart 2019. Julia von Lucadou: „Die Hochhaussp­ringerin“, Roman, 288 Seiten, Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018.
Bücher: John Lanchester: „Die Mauer“, Roman, aus dem Englischen von Dorothee Merkel, Verlag KlettCotta, Stuttgart 2019. Julia von Lucadou: „Die Hochhaussp­ringerin“, Roman, 288 Seiten, Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018.

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