Gequälte Heimkinder leiden heute noch an den Spätfolgen
Der Kärntner Kinderarzt Franz Wurst hat über Jahrzehnte Kinder missbraucht – und als angesehener Professor ganze Generationen von Studierenden in Nichtwahrnehmung von Gewalt ausgebildet.
Im April 2008 ist der Kärntner Kinderarzt und Kinderpsychiater Franz Wurst im Alter von 88 Jahren verstorben. Elf Jahre nach seinem Tod beschäftigt sein „Wirken“immer noch Opferschutzstellen. „Es ist sehr viel Unrecht passiert. Manche Opfer leben nicht mehr, manche haben Suizid begangen“, sagt Astrid Liebhauser, Leiterin der Kinder- und Jugendanwaltschaft in Klagenfurt.
Sie spricht von einem „ganz dunklen Kapitel“. Rund 140 Menschen, die als Kinder und Jugendliche Opfer von sexualisierter Gewalt durch Wurst wurden, erhielten Entschädigungen vom Land Kärnten. Und bei der Volksanwaltschaft können seit 2018 Opfer von Gewalt in Krankenanstalten Heimopferrenten beantragen. Seither haben etwa 50 Opfer von Wurst diese Art von Rente beantragt. Das sei aber nur ein Bruchteil aller Fälle, die Dunkelziffer der Betroffenen ist Liebhauser zufolge enorm hoch.
Die Bildungswissenschafterin Ulrike Loch, die jetzt an der Universität Bozen lehrt, arbeitet an einem Forschungsprojekt zu Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen. Der Kinderarzt wird von beiden Frauen, Liebhauser wie Loch, als omnipräsent beschrieben: Er war Leiter der Heilpädagogik am LKH Klagenfurt (1969 bis 1985), war im Landesjugendheim Rosental tätig, hatte bis zum Jahr 2000 eine Privatordination und er lehrte an den Universitäten Graz, Klagenfurt (bis 1987) und Wien. „Viele Fachkollegen haben Wurst als die Kapazität erlebt und nicht hinterfragt, wie er Kinder behandelt hat“, erzählt Liebhauser. Und Loch sagt: „Wurst hat mit seinem sehr pathologisieren- den Blick auf Kinder die Heilpädagogik in Österreich geprägt.“Hinweise auf Gewalt seien von Mitarbeitern aus Selbstschutz umgedeutet worden. „Wurst hat ganze Generationen von Studierenden in Medizin, Psychologie und Pädagogik in Nichtwahrnehmung von Gewalt gegen Kinder ausgebildet, obwohl er sich selbst als ,Anwalt von Kindern‘ hat feiern lassen“, betont Loch. Das habe Folgen auf die Praxis, denn noch in den 1970er- und 1980erJahren sei gelehrt worden, Kinder erbbiologisch und nicht wie heute üblich traumapädagogisch zu begutachten. Wurst hat beispielsweise die Genitalien der Kinder vermessen, seine Theorien waren der Nazizeit verhaftet.
„Damals galten diese Kinder als Schwererziehbare. Mit heutigem Wissen haben sich die Kinder berechtigt gewehrt gegen sexualisierte Gewalt“, erklärt Loch. „Es war bis in die 1970er-Jahre für Täter sehr einfach, Kinder zu misshandeln. Eltern hatten keinen Zugang zu den Heimen und die Fachaufsicht hat nicht funktioniert.“
Die über Jahre traumatisierten Menschen leiden heute noch an den Folgen beziehungsweise sind auch ihre Kinder und Enkel Leidtragende. „Aus den Erlebnissen heraus sind Berufskarrieren zerstört worden. Menschen sind nicht in der Lage, bis zur Rente zu arbeiten. Und sie geben die Belastungen an die nächste Generation weiter, ohne das zu wollen“, sagt Loch. Die oft schlecht Ausgebildeten hätten Probleme, ihre Kinder finanziell wie emotional zu unterstützen. Einige Opfer seien auch in die Kriminalität abgeglitten, andere kämpften mit Drogensucht. „Ein hoher Anteil ist nicht gut mit dem Leben zurechtgekommen“, erklärt Loch.