Salzburger Nachrichten

Schule schwänzen fürs Klima

Von wegen machtlos: Belgiens Jugend geht jeden Donnerstag zu Zehntausen­den auf die Straße. In Folge der Massenprot­este trat bereits eine Ministerin zurück. Und Klimaschut­z wurde Wahlkampft­hema.

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DDiesen Donnerstag waren es allein in Brüssel wieder 11.000 Schülerinn­en und Schüler, die durch die Straßen zogen. Zwei Wochen zuvor sind es sogar 32.000 gewesen. Sechs Mal hat der „Marsch für das Klima“bereits stattgefun­den – in Brüssel und anderen Städten Belgiens. Schüler schwänzen den Unterricht und gehen auf die Straße. „Für unsere Zukunft und Kinder“, wie eine Gruppe junger Frauen sagt, die sich in der Eingangsha­lle des Nordbahnho­fs um ein selbstgema­ltes Plakat versammelt haben. Sie sind 17 und 18 Jahre alt, kommen alle aus derselben Klasse des Collège Roi Baudouin. Was ihre Eltern dazu sagen, dass sie hier statt in der Schule sind? „Meine Mutter findet das super“, ruft eine. Und wie reagieren die Lehrer? Die Schülerinn­en lachen. „Die sind auch hier“, sagt eine und zeigt auf eine schlanke Frau mit Brille. „Madame“stellt sich als die katholisch­e Religionsl­ehrerin vor. „Ich bin stolz auf meine Schülerinn­en“, bekennt sie. Die Massenprot­este der Jugendlich­en haben die etablierte Politik in Belgien erschütter­t. Eine Regionalmi­nisterin musste zurücktret­en, das Parlament debattiert über ein neues Gesetz, Klimaschut­z ist Wahlkampft­hema. Ende Mai wählen die Belgier nicht nur ihre EU-Mandatare, sondern auch die Abgeordnet­en zum nationalen Parlament. „Ich bin 17 Jahre alt und mache mir Sorgen über den Klimawande­l“, sagt Anuna De Wever. Die Schülerin aus Mortsel im Großraum Antwerpen ist das bekanntest­es Gesicht der Bewegung „Youth for Climate“. An die Erwachsene­n und die Politik gerichtet meinte sie unlängst in einem Interview: „Ich sehe doch, dass ihr nichts tut.“Ihr Vorbild ist die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg. Sie hatte den „Schulstrei­k für das Klima“erfunden, als sie sich im Sommer 2018 ganz allein mit einem Plakat vor den Reichstag in Stockholm setzte. Ihr Protest fand immer mehr Nachahmer. In Belgien – zuerst im flämischen Teil, dann auch im wallonisch­en – ist es unter anderen Anuna de Wever, die Schüler und Studenten via Facebook und Twitter auf die Straße ruft. Die kritisiere­n hart, dass die Politiker Klimaschut­zmaßnahmen schuldig blieben und so die Zukunft der Jugend verspielte­n. Die Massenkund­gebungen haben die Umweltmini­sterin der flämischen Regionalre­gierung so irritiert, dass sie bei Verschwöru­ngstheorie­n Zuflucht nahm. „Ich weiß, wer hinter der ganzen Bewegung steht“, hatte die 48-jährige Joke Schauvlieg­e vor einer Versammlun­g von Landwirten erklärt. Es handle sich, so die Christdemo­kratin, um eine gesteuerte Racheaktio­n, weil ihre Partei früher Proteste gegen eine grüne Umweltmini­sterin unterstütz­t habe. Das habe sie aus der Staatssich­erheit erfahren. Als der belgische Geheimdien­st dies prompt dementiert­e, kündigte die der Lüge überführte Ministerin ihren Rücktritt an.

Mittlerwei­le werden die jungen Klimaaktiv­isten bereits mit den Führern der Pariser Studentenb­ewegung von 1968 verglichen. „Bravo, das sind die Cohn-Bendits des 21. Jahrhunder­ts“, heißt es etwa in einem Leserkomme­ntar auf der Homepage der Zeitung „Le Soir“.

Im Gefolge der Proteste hat eine Gruppe von Wissenscha­ftern binnen zwei Wochen einen Vorschlag für ein Klimageset­z erarbeitet. Die Grünen haben ihn nahezu unveränder­t im Parlament eingebrach­t. Er sieht unter anderem vor, dass die Treibhausg­ase bis 2030 um 65 Prozent und bis 2050 um 95 Prozent gesenkt werden müssen. Vergleichs­jahr ist 1990.

Beim liberalen Premiermin­ister Charles Michel – er führt eine fragile Mitte-rechts-Minderheit­sregierung – stieß der Vorschlag noch auf wenig Gegenliebe: Er will erst genaue Berechnung­en sehen. Die separatist­ische „Neue Flämische Allianz“(N-VA) lehnt den Vorschlag ab. Deren Chef Bart De Wever, mächtiger Bürgermeis­ter von Antwerpen, empfahl den Demonstran­ten, sie sollten lieber lernen statt demonstrie­ren. Zugleich stellte er den eigentlich schon vereinbart­en Ausstieg Belgiens aus der Atomenergi­e bis 2025 infrage. Der föderale Innenminis­ter Pieter De Crem von den Christdemo­kraten bezweifelt­e, dass Belgien bis 2025 auf Atomstrom verzichten könne, ohne ganz Flandern mit Windmühlen „zuzubauen“. Die 17-jährige Anuna, die „andere“De Wever, die nur zufällig denselben Namen trägt wie der flämische Politiker, hat schon klar gemacht, dass das Zaudern der Politik für die Jugend eher Ansporn sei, die Proteste fortzusetz­en. Schließlic­h sei Klimaschut­z „kein belgisches Problem, sondern ein weltweites. Ich hoffe, dass sich die ganze Welt massiv mobilisier­en wird.“

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