Wo der Fundamentalismus anfing
Die Bibel und ihre wörtliche Auslegung sind eine politische Macht. Daher wird es dem Phänomen des Fundamentalismus nicht gerecht, wenn man ihn nur mit dem Islam verbindet.
IIn seinem viel beachteten Buch „Thumpin’ It“setzte sich Jacques Berlinerblau mit der Rolle der Bibel in der US-amerikanischen Politik auseinander. Dies ist umso bemerkenswerter, weil er als Professor für Jüdische Kulturgeschichte diese Thematik von einem Standpunkt mit gewisser Distanz vornehmen wollte: Die Bibel taucht in der gesellschaftspolitischen Entwicklung der USA an unterschiedlichen Stellen auf. In so gut wie allen Fällen erfüllt sie jedoch keinen genuin religiösen Zweck, sondern dient der Erreichung sehr irdischer Ziele. Es werden ihr Argumentationsmuster, Identitätsmotive oder allseits bekannte Szenarien entnommen, um eine intendierte Wirkung in der Adressatenschaft zu erzielen.
Donald Trump reiht sich nahtlos in die gesellschaftspolitische Funktionalisierung der Bibel ein. Dazu passend die These von Jacques Berlinerblau: Die Bibel ist eine politische Macht. Ihr Einsatz gibt moralischen und ideologischen Rückhalt, der Stabilität und Durchsetzungskraft erzeugt. Die Bibel ermöglicht symbolische Bezüge, mit ihr in der Hand lässt sich Nachdruck erzeugen. Sie wirkt wie ein Abwehrschild, der als unhinterfragte Autorität in der Öffentlichkeit eingesetzt werden kann. Bei ihr handelt es sich mehr um ein Werkzeug öffentlichkeitswirksamer Rhetorik als um eine Quelle spirituellen Lebens – wenngleich das nicht ausgeschlossen wird.
Wenn es heute in Debatten um den Fundamentalismus geht, denken viele entweder an die islamistischen Selbstmordattentäter, die sich offenbar liebend gerne in die Glaubenswelten einer spätantiken Zeit zurückbomben wollen, oder aber man hat traditionalistische Gruppierungen christlicher Kirchen vor Augen, die wohl nur allzu bereitwillig wieder ins finstere Mittelalter zurückkehren wollen und heimlich schon wieder an Scheiterhaufen schichten. Beide Vorstellungen sind angesichts aktueller Entwicklungen durchaus verständlich, doch werden sie dem komplexen Phänomen des Fundamentalismus nicht gerecht.
Zunächst muss klargestellt werden: Der Fundamentalismus ist ein genuin modernes Phänomen. Fundamentalisten sind ohne die aufkommende Moderne gar nicht zu denken. Man muss sogar sagen, dass Fundamentalisten ohne ihren fortschrittlichen Widerpart völlig sinnlose und ziellose Gestalten wären. Schließlich war der Fundamentalismus seit seinen ersten Entwicklungen eine Weltsicht, die sich von der Moderne absetzen wollte. Also: Ohne Moderne gäbe es auch keine Notwendigkeit, einen Fundamentalismus zu begründen. Ohne Gegner würde jeder fundamentalistische Kampfsportler zu einem Schattenboxer werden. Insofern gab es im Mittelalter oder in der Antike noch keine Fundamentalisten.
Als religiöse Bewegung hat diese Haltung ihre Ursprünge denn auch nicht in den muslimischen Gebieten, sondern in den USA, genauer gesagt in Kalifornien, und feiert – wenn man das so bezeichnen kann – ziemlich genau ihren 100. Geburtstag. Die damalige Zeit war von den Erfolgen der modernen Wissenschaften geprägt. Deren bahnbrechende Erkenntnisse forderten die Glaubensansichten der Menschen heraus. Als Antwort auf diese „Relativierungen“– zum Beispiel die der Erschaffung der Welt in sechs Tagen durch die Evolutionstheorie – forderten konservative Kreise eine umso größere Konzentration auf unumstößliche Wahrheiten des Glaubens.
Man wandte sich, als sich die Moderne wissenschaftlich zu ihren ersten Höhepunkten entwickelte, einfach von ihr ab und versuchte, ihr eine Gegenrealität, die einzig wahre Realität des christlichen Glaubens, entgegenzusetzen. Dabei setzten fundamentalistische Gruppierungen darauf, diese Diskussionen nicht nur abzuwiegeln, sondern aktiv dagegen vorzugehen. Dazu benutzten sie die modernsten Medien (Radiound TV-Prediger wie Paul Rader oder Billy Sunday) und nicht zuletzt auch bestens inszenierte Großveranstaltungen – Revivals genannt. Sie gründeten ihre eigenen Colleges, Universitäten, sogar Supermärkte und Restaurantketten. Man kann fast von einer gesellschaftlichen Parallelgesellschaft in den Vereinigten Staaten bis in die 1950erJahre sprechen. Fundamentalisten nahmen immer weniger an der öffentlichen Politik teil. Die Rechtsprechung in den Staaten war ihnen viel zu liberal geworden. Sie wollten sich auf ihre Religiosität konzentrieren und engagierten sich nicht in der Öffentlichkeit.
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war diese Form der Religiosität in den USA keinesfalls als etwas Negatives angesehen. Die Fundamentalisten waren anders, das ganz sicher. Aber sie wurden nicht als aggressive Gegner des Staates wahrgenommen. Sie verübten keine Attentate, sie unterwanderten das System nicht. Vielmehr verstanden sie sich als der „auserwählte Rest“, der in einer verderbten Welt auf Christus zu warten hatte.
Immer im Zentrum der Auseinandersetzung fand sich die Bibel. Ihre „wörtliche“Auslegung galt als die Grundlage der wahren christlichen Weltsicht, jede Interpretation ist angesichts der biblischen Unfehlbarkeit ausgeschlossen. Ihr Inhalt ist mehr als nur Gesetz: Es ist der wörtliche Ausdruck von Gottes Willen. Selbst wenn die klassischen Fundamentalisten heute in den USA eine verschwindend geringe Minderheit sind, hat sich das Bewusstsein einer auf die Bibel bezogenen Gesellschaft aufrechterhalten. An vielen öffentlichen Gebäuden prangen steinerne Darstellungen der Bibel ebenso wie etwa der Gesetzestafeln, die Mose für das auserwählte Volk erhalten haben soll. Beide Darstellungen haben sich in den USA als säkulare Kunstform etabliert, und mit der Bibel lässt sich nach wie vor ausgezeichnet Politik machen.
Berlinerblau analysierte zahlreiche Reden von US-Politikern und stellte fest, dass es nur sehr wenige gibt, die in ihrer Schlagkraft ohne die Bezüge zu biblischen Quellen, Motiven oder zumindest Sprachformen auskommen. Der Einsatz der Bibel in der Öffentlichkeit kann subtil sein oder mit der Brechstange, und er kann nicht auf eine Partei oder einen Personenkreis eingeengt werden. Der Gebrauch der Bibel ist demnach zunächst kein Hinweis auf die Religiosität dessen, der sie einsetzt, sondern ein Handwerkszeug, über dessen Wirkung sich die Politiker im Klaren sind. Für welche Zwecke sie die biblische Kraft dann tatsächlich einsetzen, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt.
Der Fundamentalismus braucht die moderne Gesellschaft als Gegner. Andreas G. Weiß Theologe und Autor BILDER: SN/MICHAEL TRACEY, PRIVAT