Haben Sie Sex? noch
Gesellschaft im Notstand. Die sexuelle Übersättigung bedroht die Erotik und damit die Liebe. Experten raten: Wir sollten uns wieder mehr schämen.
OOhne Sex würden Sie heute nicht Zeitung lesen. Wir alle wären nicht hier – ohne Sex. Für einen gestandenen Moralapostel mag das hart sein: Aber wir haben Glück gehabt, dass wir von unseren Eltern in einem sogenannten schwachen Moment gezeugt wurden. Der Wiener Philosoph Eugen Maria Schulak formuliert: „Das Animalische in uns ist eine unhintergehbare Grundkonstante. Die Tatsache, dass es ebendiesen Trieb gibt, verursacht alles Weitere.“Gäbe es diesen Trieb nicht, dann würden wir vielleicht selbstbefruchtete Eier legen, fährt er fort. „Oder besser noch: Würden wir uns wie die Farne vermehren, indem wir unsere Sporen aus den Achselhöhlen schütteln würden; dann gäbe es den Eros, das ganze Thema freilich nicht.“
Sporen aus den Achselhöhlen? Das erinnert an die jungfräuliche Geburt, die in vielen Religionen und alten Kulturen eine große Rolle spielt. So galt in Babylon der Herrscher als der Same eines Gottes, der von einer Göttin geboren wurde. In Indien wiederum fährt die Gottheit ungefragt in den Schoß der Frau. Im alten Ägypten haben wir den Schöpfergott Ptah. Er erschuf sich selbst. Dann bestieg er fleißig in unterschiedlichen Gestalten menschliche Frauen. Ramses II. zeugte er etwa in Gestalt eines Bockes. Da wundert es auch nicht, dass Mithras, die römische Personifizierung der Sonne, von einer Jungfrau geboren wurde.
Berührungsängste mit dem animalischen Trieb seien sehr wichtig, meint Schulak. Weil erst die Regulierung zur Unterscheidung zwischen dem animalischen Trieb und der Erotik führt. Schulak: „Diese neuartige und im Gegensatz zum Tier spezifisch menschliche Situation – die schamhafte Sexualität – markiert exakt den Beginn der Erotik, die dem Menschsein zugrunde liegt.“
Mit dem Internet wurde die Regulierung des Triebs abgeschafft. Diese Gefahr sah der französische Schriftsteller Michel Houellebecq bereits 1994. Damals erschien sein Roman „Ausweitung der Kampfzone“. Darin klagt der Ich-Erzähler sein Leid: „In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt ... Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen.“
Diese „Ausdehnung“der Sexualität führte zu einer Übersättigung. Und diese bedingt Krankheiten wie PIED. Die vier Buchstaben stehen für „porn-induced erectile dysfunction“. Betroffen sind sogar schon junge Männer. Studien belegen einen Zusammenhang zwischen starkem Pornokonsum und mangelnder Potenz. Die digitale Überflutung mit bizar- ren Sexfilmen verursache demnach ein Desinteresse an „normalen“Reizen. Was dazu führt, dass Männer nicht mehr ausreichend erregt werden können. Wie es um das Sexleben generell bestellt ist, das wird regelmäßig in Umfragen erhoben (siehe Grafik unten). Befragungen zu intimen Details gelten in der Branche als eine Art Königsdisziplin. „Es ist leicht, jemanden zu fragen, wie viele Kilometer sich sein Wohnsitz vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel entfernt befindet“, sagt der Sozialforscher Günther Ogris vom Institut SORA. „Die Frage dagegen, wie oft jemand Geschlechtsverkehr hat oder ob er unter Erektionsstörungen leidet, benötigt ein arbeitsintensives Fragenumfeld, das erst geschaffen werden muss.“Nur dann komme man zu aussagekräftigen Zahlen. Die in der Grafik unten ausgewiesene sexuelle Zufriedenheit monogam lebender Paare wird übrigens auch von der Wissenschaft bestätigt. Hier greift die Wechselwirkung zwischen Treue und Sex. Die Treue bedingt nämlich Sex – und Sex bedingt die Treue. Denn Sex zwischen Menschen ist – anders als bei Tieren – tatsächlich Kopfsache. Während der Kopulation werden in den Hirnregionen ventrales Tegmentum und im Nucleus caudatus Glückshormone ausgeschüttet. Etwa Dopamin. Womit Sex und Liebe in süchtig machender Gesellschaft sind: Diese Mengen Dopamin schaffen sonst nur Kokain, Heroin und Ecstasy. Ein weiterer Nebeneffekt ist die Vermehrung des Hormons Oxytocin. Dieses sorgt für Vertrautheit und Wohlbefinden. Man müsse, so das Fazit einer Studie, nur „ordentlich kuscheln und oft genug Sex mit seinem Partner haben, dann fließt genügend Oxytocin durch die Schaltkreise, um ein Leben lang zusammenbleiben zu wollen“.
Hier liegt laut der Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger heute einiges im Argen: „Die Hardware Herz ist zunehmend beschädigt“, schreibt sie in ihrem Buch „Diagnose: Mingle“(edition a). „Wir sind auf dem Weg zu einer fühltauben Gesellschaft. Es entstehen distanzierte Seelenfreundschaften mit Sexualoption ohne Vermischung von Lebensplänen.“Die Menschen, so Leibovici-Mühlberger, neigten immer mehr zu fragilen Ich-Konstruktionen, was dazu führe, dass die Therapiebedürftigkeit steige. Dieser hormonelle Notstand der westlichen Gesellschaft hat auch schon die Pharmaindustrie auf den Plan gerufen. Die Firma Clinuvel Pharmaceuticals hat bereits den Stoff CUV9900 entwickelt. Diese synthetische Wirkform des körpereigenen Peptidhormons MSH (Melanozyten-stimulierendes Hormon) begünstigt die Vermehrung des Oxytocin, das benötigt wird, um den „Rausch der Liebe“zu erzeugen. Theoretisch wäre es also möglich, sich wie auf Knopfdruck zu verlieben. Womit Sex den Nimbus des Heiligen endgültig verloren hätte.
Der Musiker Gordon Matthew Sumner, bekannt als Sting, erklärt dazu: „Religion kommt aus dem Lateinischen. Ligare heißt verbinden. Und Re-ligion heißt, die Verbindung wiederherzustellen – zwischen uns und der spirituellen Ebene.“Und das gelte eben auch bei der „Verbindung“von Mann und Frau, weshalb Sumner zu bedenken gab, dass Sex stets mit jener Würde vollzogen werden sollte, die für das dafür vorgesehene „Resultat“angemessen sei: Und das ist die Geburt eines Kindes. Dass dies nur noch möglich sei, nachdem man sich mit einer Tablette in einen lustvollen Zustand versetzt habe, um seinen Partner überhaupt noch riechen zu können, sei eine Horrorvorstellung. Der Wunsch, ein Kind zu zeugen, wurde bei der unten abgebildeten Grafik bei der Frage „Gründe für Sex“übrigens gar nicht mehr abgefragt. Es ist auch keine große Überraschung, dass Männer eindeutig mehr Freude am Sex haben als Frauen. Nach dem Sex ist es beim Mann mit der Freude allerdings umso schneller vorbei. Das ist eine Erfahrung, die Aristoteles philosophisch so zusammengefasst hat: „Nach dem Koitus ist jedes Tier traurig. Außer der Hahn und die Frau.“