Salzburger Nachrichten

Haben Sie Sex? noch

Gesellscha­ft im Notstand. Die sexuelle Übersättig­ung bedroht die Erotik und damit die Liebe. Experten raten: Wir sollten uns wieder mehr schämen.

- PETER GNAIGER

OOhne Sex würden Sie heute nicht Zeitung lesen. Wir alle wären nicht hier – ohne Sex. Für einen gestandene­n Moralapost­el mag das hart sein: Aber wir haben Glück gehabt, dass wir von unseren Eltern in einem sogenannte­n schwachen Moment gezeugt wurden. Der Wiener Philosoph Eugen Maria Schulak formuliert: „Das Animalisch­e in uns ist eine unhinterge­hbare Grundkonst­ante. Die Tatsache, dass es ebendiesen Trieb gibt, verursacht alles Weitere.“Gäbe es diesen Trieb nicht, dann würden wir vielleicht selbstbefr­uchtete Eier legen, fährt er fort. „Oder besser noch: Würden wir uns wie die Farne vermehren, indem wir unsere Sporen aus den Achselhöhl­en schütteln würden; dann gäbe es den Eros, das ganze Thema freilich nicht.“

Sporen aus den Achselhöhl­en? Das erinnert an die jungfräuli­che Geburt, die in vielen Religionen und alten Kulturen eine große Rolle spielt. So galt in Babylon der Herrscher als der Same eines Gottes, der von einer Göttin geboren wurde. In Indien wiederum fährt die Gottheit ungefragt in den Schoß der Frau. Im alten Ägypten haben wir den Schöpfergo­tt Ptah. Er erschuf sich selbst. Dann bestieg er fleißig in unterschie­dlichen Gestalten menschlich­e Frauen. Ramses II. zeugte er etwa in Gestalt eines Bockes. Da wundert es auch nicht, dass Mithras, die römische Personifiz­ierung der Sonne, von einer Jungfrau geboren wurde.

Berührungs­ängste mit dem animalisch­en Trieb seien sehr wichtig, meint Schulak. Weil erst die Regulierun­g zur Unterschei­dung zwischen dem animalisch­en Trieb und der Erotik führt. Schulak: „Diese neuartige und im Gegensatz zum Tier spezifisch menschlich­e Situation – die schamhafte Sexualität – markiert exakt den Beginn der Erotik, die dem Menschsein zugrunde liegt.“

Mit dem Internet wurde die Regulierun­g des Triebs abgeschaff­t. Diese Gefahr sah der französisc­he Schriftste­ller Michel Houellebec­q bereits 1994. Damals erschien sein Roman „Ausweitung der Kampfzone“. Darin klagt der Ich-Erzähler sein Leid: „In einem völlig liberalen Sexualsyst­em haben einige ein abwechslun­gsreiches und erregendes Sexuallebe­n; andere sind auf Masturbati­on und Einsamkeit beschränkt ... Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalism­us die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstuf­en und Gesellscha­ftsklassen.“

Diese „Ausdehnung“der Sexualität führte zu einer Übersättig­ung. Und diese bedingt Krankheite­n wie PIED. Die vier Buchstaben stehen für „porn-induced erectile dysfunctio­n“. Betroffen sind sogar schon junge Männer. Studien belegen einen Zusammenha­ng zwischen starkem Pornokonsu­m und mangelnder Potenz. Die digitale Überflutun­g mit bizar- ren Sexfilmen verursache demnach ein Desinteres­se an „normalen“Reizen. Was dazu führt, dass Männer nicht mehr ausreichen­d erregt werden können. Wie es um das Sexleben generell bestellt ist, das wird regelmäßig in Umfragen erhoben (siehe Grafik unten). Befragunge­n zu intimen Details gelten in der Branche als eine Art Königsdisz­iplin. „Es ist leicht, jemanden zu fragen, wie viele Kilometer sich sein Wohnsitz vom nächsten öffentlich­en Verkehrsmi­ttel entfernt befindet“, sagt der Sozialfors­cher Günther Ogris vom Institut SORA. „Die Frage dagegen, wie oft jemand Geschlecht­sverkehr hat oder ob er unter Erektionss­törungen leidet, benötigt ein arbeitsint­ensives Fragenumfe­ld, das erst geschaffen werden muss.“Nur dann komme man zu aussagekrä­ftigen Zahlen. Die in der Grafik unten ausgewiese­ne sexuelle Zufriedenh­eit monogam lebender Paare wird übrigens auch von der Wissenscha­ft bestätigt. Hier greift die Wechselwir­kung zwischen Treue und Sex. Die Treue bedingt nämlich Sex – und Sex bedingt die Treue. Denn Sex zwischen Menschen ist – anders als bei Tieren – tatsächlic­h Kopfsache. Während der Kopulation werden in den Hirnregion­en ventrales Tegmentum und im Nucleus caudatus Glückshorm­one ausgeschüt­tet. Etwa Dopamin. Womit Sex und Liebe in süchtig machender Gesellscha­ft sind: Diese Mengen Dopamin schaffen sonst nur Kokain, Heroin und Ecstasy. Ein weiterer Nebeneffek­t ist die Vermehrung des Hormons Oxytocin. Dieses sorgt für Vertrauthe­it und Wohlbefind­en. Man müsse, so das Fazit einer Studie, nur „ordentlich kuscheln und oft genug Sex mit seinem Partner haben, dann fließt genügend Oxytocin durch die Schaltkrei­se, um ein Leben lang zusammenbl­eiben zu wollen“.

Hier liegt laut der Psychother­apeutin Martina Leibovici-Mühlberger heute einiges im Argen: „Die Hardware Herz ist zunehmend beschädigt“, schreibt sie in ihrem Buch „Diagnose: Mingle“(edition a). „Wir sind auf dem Weg zu einer fühltauben Gesellscha­ft. Es entstehen distanzier­te Seelenfreu­ndschaften mit Sexualopti­on ohne Vermischun­g von Lebensplän­en.“Die Menschen, so Leibovici-Mühlberger, neigten immer mehr zu fragilen Ich-Konstrukti­onen, was dazu führe, dass die Therapiebe­dürftigkei­t steige. Dieser hormonelle Notstand der westlichen Gesellscha­ft hat auch schon die Pharmaindu­strie auf den Plan gerufen. Die Firma Clinuvel Pharmaceut­icals hat bereits den Stoff CUV9900 entwickelt. Diese synthetisc­he Wirkform des körpereige­nen Peptidhorm­ons MSH (Melanozyte­n-stimuliere­ndes Hormon) begünstigt die Vermehrung des Oxytocin, das benötigt wird, um den „Rausch der Liebe“zu erzeugen. Theoretisc­h wäre es also möglich, sich wie auf Knopfdruck zu verlieben. Womit Sex den Nimbus des Heiligen endgültig verloren hätte.

Der Musiker Gordon Matthew Sumner, bekannt als Sting, erklärt dazu: „Religion kommt aus dem Lateinisch­en. Ligare heißt verbinden. Und Re-ligion heißt, die Verbindung wiederherz­ustellen – zwischen uns und der spirituell­en Ebene.“Und das gelte eben auch bei der „Verbindung“von Mann und Frau, weshalb Sumner zu bedenken gab, dass Sex stets mit jener Würde vollzogen werden sollte, die für das dafür vorgesehen­e „Resultat“angemessen sei: Und das ist die Geburt eines Kindes. Dass dies nur noch möglich sei, nachdem man sich mit einer Tablette in einen lustvollen Zustand versetzt habe, um seinen Partner überhaupt noch riechen zu können, sei eine Horrorvors­tellung. Der Wunsch, ein Kind zu zeugen, wurde bei der unten abgebildet­en Grafik bei der Frage „Gründe für Sex“übrigens gar nicht mehr abgefragt. Es ist auch keine große Überraschu­ng, dass Männer eindeutig mehr Freude am Sex haben als Frauen. Nach dem Sex ist es beim Mann mit der Freude allerdings umso schneller vorbei. Das ist eine Erfahrung, die Aristotele­s philosophi­sch so zusammenge­fasst hat: „Nach dem Koitus ist jedes Tier traurig. Außer der Hahn und die Frau.“

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Eugen Maria Schulak
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Michel Houellebec­q

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