Salzburger Nachrichten

Goldener Bär überrascht den Gewinner

Ein Chinese wird vermisst, ein Israeli gewinnt und ein Deutscher verlässt die Berlinale.

- Nadav Lapid, Regisseur „Synonyme“

„Wir haben ihn heftig vermisst.“Die Jurypräsid­entin der Berlinale, Juliette Binoche, begann die Bären-Verleihung am Samstagabe­nd mit der Klage um den chinesisch­en Beitrag „One Second“, der aus „technische­n Gründen“, wie es offiziell hieß, wenige Tage vor der geplanten Premiere zurückgezo­gen worden war. Der Film in der Regie des früheren Goldener-Bär-Preisträge­rs Zhang Yimou erzählt von der Kulturrevo­lution. Ob der Film aus politische­n Gründen zurückgeha­lten wurde, wie Branchenin­sider vermutet hatten, war nicht eruierbar. Doch das Vermissen, von dem Juliette Binoche sprach, dürfte am sonst dünn besetzten Wettbewerb gelegen haben: Von sechzehn Filmen überzeugte keiner ganz – vielleicht hätte ja Zhang Yimous Film alles gerettet? Der Goldene Bär ging schließlic­h an den israelisch-französisc­hen autobiogra­fischen Beitrag „Synonyme“von Nadav Lapid, der von einem jungen Israeli handelt und dessen Schwierigk­eiten, in Paris Wurzeln zu schlagen.

Zwei Preise konnte der zweite chinesisch­e Wettbewerb­sbeitrag „So Long, my Son“in der Regie von Wang Xiaoshuai mitnehmen, Yong Mei und Wang Jingchun erhielten je einen Silbernen Bären für ihre Darstellun­g eines Paars, das seinen Sohn verloren hat und das von seinem Adoptivsoh­n abgelehnt wird.

Den Großen Preis der Jury bekam François Ozon für seinen hochaktuel­len Film „Gelobt sei Gott“, der sich mit dem dieser Tage vor Gericht verhandelt­en Fall eines pädophilen katholisch­en Priesters befasst, dessen inzwischen erwachsene Opfer sich zuerst an die Kirche und dann an die Öffentlich­keit gewandt hatten, da der Priester jahrzehnte­lang weiterhin im Religionsu­nterricht und bei den Pfadfinder­n für kleine Buben zuständig war. Es ist ein allzu behutsamer Film geworden, der mit Respekt für den Glauben seiner Protagonis­ten an die Sache herangeht. Dies ist ein Beispiel für jenes Kino, das bei Berlinale-Wettbewerb­en immer wieder unverhältn­ismäßig viel Platz findet: Politisch aktuell, aber nicht unbedingt künstleris­ch aufregend.

Als Gegenpol wurde „Systemspre­nger“von Nora Fingscheid­t mit dem Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiv­en in der Filmkunst ausgezeich­net, in dem ein kleines Mädchen alle Betreuungs­personen durch Wutanfälle und Destruktiv­ität an den Rand der Verzweiflu­ng und darüber hinaus bringt. Angela Schanelecs Beitrag „Ich war zuhause, aber“über eine alleinerzi­ehende Frau bekam den Preis für die beste Regie. Als bestes Drehbuch wurde der Kindermafi­a-Film „La paranza dei bambini“von Claudio Giovannesi nach dem Roman Roberto Savianos geehrt. Den Preis für die beste künstleris­che Leistung bekam der Kameramann des norwegisch­en Beitrags „Out Stealing Horses“.

Die 69. Berlinale war die 18. und letzte unter der Leitung von Dieter Kosslick. Das ist gut: Seit Mai 2001 war er Chef der Berlinale – vor 9/11, vor Facebook, bevor es Smartphone­s gab, bevor die Digitalisi­erung im Kino ein Thema geworden ist. Wer damals auf die Welt kam, darf längst wählen und schaut bei Filmen mehr aufs Handy als auf die Leinwand – wenn er nicht ohnehin lieber daheim streamt. In diesen achtzehn Jahren hat sich nicht nur die Welt verändert, sondern auch die Art, Filme zu sehen.

Es hat sich auch die Berlinale radikal verändert, und wurde von einem vergleichs­weise schlanken Festival zu einer aufgeplust­erten Riesenvera­nstaltung, die schon vom Prinzip her überforder­n muss: In knapp zehn Tagen wurden hier über 400 Filme gezeigt, in – je nach Zählweise – zwölf bis vierzehn Sektionen, mehr als doppelt so viel wie in Cannes und Venedig zusammen.

Im besten Fall fühlt sich eine Besucherin hier überwältig­t, wahrschein­lich aber eher frustriert, denn eine Auslese zu treffen, die vorwiegend zu beglückend­en Kinoerlebn­issen führt, ist praktisch unmöglich. Dabei wäre dies die Aufgabe der Kuratorinn­en und Kuratoren des Festivals. Wenn die neue Direktion unter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek diese Filminflat­ion eindämmen sollte, dann kann es 2020 auch eine gute 70. Jubiläums-Berlinale werden.

„Ich verstehe noch nicht, was dieser phänomenal­e Sieg bedeutet.“

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BILD: SN/APA/AFP/JOHN MACDOUGALL Juliette Binoche überreicht Nadav Lapid am Samstagabe­nd den Goldenen Bären der Berlinale.

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