Eine schaurige Tat aus der Renaissance geht uns nah
Mit „Beatrix Cenci“von Alberto Ginastera empfiehlt sich die Opéra national du Rhin in Straßburg endgültig für hohe Weihen.
Geht es in Spielplankonzepten nach Faktoren wie Risikobereitschaft, Repertoire-Neugier und kluge Kontexte, so kann die Opéra national du Rhin in Straßburg spätestens in dieser Saison, der zweiten der Intendantin Eva Kleinitz, als Oper des Jahres gehandelt werden. Ob Offenbach-Entdeckung, köstliches Barock-Lustspiel oder Rarität der Moderne: Alles hat besondere Strahlkraft.
Jüngstes Beispiel: In dem von Eva Kleinitz kreierten Frühjahrsfestival Arsmondo öffnet heuer Argentinien das Fenster zur Welt. Das zentrale Opernprojekt gilt dem in Europa kaum bekannten argentinischen Komponisten Alberto Ginastera (1916–1983) und seiner dritten und letzten Oper „Beatrix Cenci“(1971).
Der Stoff, den etwa auch Berthold Goldschmidt für die Opernbühne bearbeitete – sein Werk von 1949/50 war bei den Bregenzer Festspielen 2018 zu sehen –, zeigt eine von der Kunstgeschichte begierig absorbierte Sex-and-crime-Story aus der Renaissance. Der sadistische, gewalttätige römische Aristokrat Francesco Cenci, der bei seinen Ausschweifungen und Untaten sowohl vom Adel als auch dem Papst nicht behelligt wird, misshandelt seine Tochter Beatrix brutal. Letztlich töten zwei Handlanger den Grafen im Auftrag der Familie, Beatrix wird als eine der Anstifterinnen zum Tod verurteilt.
Im Gegensatz zur Oper Goldschmidts besticht Ginasteras Version schon durch ihre Konzentration auf nur 90 Minuten. Zudem werden die literarischen Vorlagen von Stendhal, Percy Shelley und Antonin Artaud („Theater der Grausamkeit“) verdichtet für eine abstrakt grundierte, surreal zugespitzte, oft in großen Monologen und kommentierenden Chorsätzen – die Masse bekennt sich sogar offen dazu, selbst auch schuldig zu sein – wuchtig elaborierte Handlung. Sie dient einer faszinierenden Musik als Folie, die Forme(l)n der Vergangenheit (bis hin zu Paraphrasen von Renaissancemusik) virtuos handhabt, trotzdem in jeder der 14 Szenen eigene Physiognomie besitzt.
Das Straßburger Orchester vollbringt unter der souverän regulierenden Leitung seines Chefs Marko Letonja eine exzellente Leistung wie auch der formidable Chor und die punktgenau besetzten Solisten in stichhaltiger Familienaufstellung: Leticia de Altamirano in der Titelrolle, Ezgi Kutlu als Stiefmutter, Gezim Myshketa als Graf, Josy Santos als Beatrix’ Bruder.
Als Regisseur debütiert der angesagte argentinische Theatermacher Mariano Pensotti im Musiktheater. Auf der unablässig in genau bemessenem Tempo kreisenden, von Mariana Tirantte raffiniert eingerichteten Drehscheibe erscheinen fluktuierende Zimmerfluchten eines Magnaten im Stil der 1970er-Jahre, der sich mit „schöner Kunst“umgibt, um seine ungeheuerlichen Taten ästhetisch zu ummanteln. Selbst die Tochter erscheint als puppenhafte Kunstfigur in einschnürender Lederkorsage und mit geschientem Bein, als entstiege sie zitathaft Bildern von Balthus, Man Ray oder Hans Bellmer. Am Ende, vor der Hinrichtung, wird sie als Artefakt gnadenlos maschinell vermarktet: ein beklemmendes Bild der Ohnmacht. Der schöne Schein verdrängt perfekt die brutale Wirklichkeit. Oder macht er sie gerade dadurch erst kenntlich? Pensottis Vexierspiel ist ein Meisterstück, adäquat der Oper Ginasteras.