Salzburger Nachrichten

„Gründen muss der Traum für Junge sein“

Damit Europa in der Digitalisi­erung aufhole, brauche es mehr Mut zum Risiko und Wertschätz­ung für Gründer, sagt ein Experte.

- BILD: SN/FOTOLIA

RICHARD WIENS

Alle reden von der Digitalisi­erung der Wirtschaft, inwieweit ist sie dort schon in der Breite angekommen?

Stefan Groß-Selbeck: Es gibt mittlerwei­le vor allem bei Führungskr­äften großer Konzerne ein sehr hohes Bewusstsei­n für dieses Thema. Man hat erkannt, dass es Bedarf für Veränderun­gen und Investitio­nen gibt. Die Herausford­erung besteht darin, die eigene Organisati­on hinter diesen Zielen zu versammeln.

Große Unternehme­n sind oft träge, wenn es um Veränderun­g geht. Behindert das die Digitalisi­erung?

Das ist eine zentrale Hürde. Eine Besonderhe­it der Digitalisi­erung ist, dass sie nicht nur inkremente­lle, also schrittwei­se Innovation ermöglicht, sondern dass Disruption stattfinde­t, die völlig neue Geschäftsm­odelle und Angebote entstehen lässt. Unternehme­n tun sich aber schwer damit, die eigene Geschäftsg­rundlage anzugreife­n. Das sieht man zum Beispiel in der Automobili­ndustrie. Die war über Jahrzehnte sehr gut darin, Fahrzeuge im Rahmen der bestehende­n Technologi­e immer besser zu machen. Aber bei digitalen Plattforme­n oder E-Mobilität tat sie sich lange schwer. Jetzt erleben wir, wie die Branche aufwacht und sehr viel investiert. Aber Trendsette­r waren andere, Anbieter wie Tesla oder Uber.

Gelingt disruptive Digitalisi­erung von innen heraus oder brauchen Unternehme­n Anstöße von außen?

Wenn man über neue Formen der Innovation nachdenkt, benötigt man Input von außen und auch eine auf Kunden zentrierte Arbeitsorg­anisation, die man von Start-ups kennt. Die Investitio­nen in Corporate Venture Capital, also in Startups, sind in den vergangene­n fünf Jahren im Durchschni­tt um 30 Prozent gestiegen. Auch wir inkubieren in unserer Arbeit viele Geschäftsm­odelle in Kooperatio­n mit Startups. Eine der wichtigste­n Regeln, die wir zu Beginn festlegen, lautet: Wenn wir Erfolg haben wollen, muss es vom klassische­n Geschäft getrennt sein. Und zwar organisato­risch, personell und am besten auch an einem anderen Ort. Nur dann kann man andere Arbeitswei­sen anwenden und Talente anziehen.

Mit welchen Fragen kommen Unternehme­n auf Sie zu?

Wir sind eine Einheit der Boston Consulting Group, machen aber keine klassische Beratung. Wir entwickeln mit dem Kunden neue Geschäftsm­odelle und beteiligen uns auch finanziell daran. Unternehme­n kommen auf uns zu, weil sie neue Möglichkei­ten für Wachstum suchen. Ein anderer Ansatz ist die Sorge, in einem sich rasch verändernd­en Markt unter existenzie­llen Druck zu geraten. Daher wollen diese Unternehme­n einen „digital attacker“bauen, der möglicherw­eise sogar das eigene Geschäft angreift. Es ist aber allemal besser, es selbst zu tun, als darauf zu warten, dass es andere tun. Und es gibt auch Unternehme­n, die eine Idee haben, aber nicht die Kapazität, sie allein umzusetzen. So wie Bosch, für die wir in sieben Monaten einen E-ScooterSha­ringdienst aufgebaut haben.

Gemeinhin gelten die USA als Vorreiter in der Digitalisi­erung. Wie würden Sie die Position Europas in dieser Hinsicht beschreibe­n?

Es gibt in den USA und in China mehr Start-ups, die Innovation aggressive­r vorantreib­en, als es typischerw­eise in Europa der Fall ist. Die ganz großen Konsumente­nplattform­en – im sozialen Bereich, im E-Commerce, bei der Suche – sind fest in der Hand US-amerikanis­cher oder chinesisch­er Firmen. Da findet Europa effektiv nicht statt. Zwar entwickelt sich auch hier die Start-up-Szene positiv, aber im globalen Vergleich ist es immer noch wenig. Anders ist das bei bestehende­n Unternehme­n. Die treiben die Digitalisi­erung mit einer Mischung aus neuen Modellen und höherer Effizienz im Kerngeschä­ft voran, da muss sich Europa nicht verstecken.

Es gibt ja in Europa nicht weniger helle Köpfe als anderswo. Woran fehlt es?

Dass in den USA mehr gegründet wird als in Europa, liegt zum einen am Bildungssy­stem. An den USTop-Unis ist die Vorbereitu­ng der Studierend­en auf das Gründen viel stärker verankert als in Europa. Hier hat das kaum Tradition, wir holen nur langsam auf. Zudem ist in den USA mehr Wachstumsk­apital verfügbar, das in Start-ups investiert wird. Und es gibt einen anderen Zugang zu Risiko und der Gefahr des Scheiterns, die ja sehr hoch ist.

Trägt die soziale Absicherun­g, die in Europa deutlich besser ist als in den USA, auch dazu bei, dass der Antrieb geringer ist, Unternehme­n zu gründen?

Das spielt sicher auch eine Rolle. Bei Gründungen im Hightech-Bereich überwiegt aber eher die Chance, möglicherw­eise viel Geld zu verdienen. Und die soziale Akzeptanz für den Erfolg, auch finanziell, ist in den USA stärker ausgeprägt.

Was kann die Politik tun?

Sie kann Rahmenbedi­ngungen für Risikokapi­tal verbessern. Man kann versuchen, die Haltung zum Unternehme­rtum in der Bildungspo­litik zu verankern. Helfen würde auch, Frauen vermehrt zum Gründen und in entspreche­nde Studienric­htungen zu bringen. Und es geht darum, die gesellscha­ftliche Wertschätz­ung für Gründer zu stärken. Wir müssen erreichen, dass es der Traum junger Menschen wird, selbst Unternehme­n zu gründen.

SN: Es gibt in Deutschlan­d, allen voran in Berlin, eine sehr lebhafte Start-up-Szene. Holt Europa allmählich auf?

Berlin hat sich in einer atemberaub­enden Weise verändert und ist mittlerwei­le auch global gesehen, einer der Hotspots. Aber andere Regionen wachsen noch schneller. Daher holen wir nicht wirklich auf.

Europas Politiker verfolgen das Ziel europäisch­er Googles, Amazons & Co. Ist das ein Erfolg verspreche­nder Ansatz?

Definitiv nicht. Diese großen Konzerne verfügen über Mittel, gegen die niemand ankommt – kein Investor, auch kein Staat. Das wäre der falsche Ansatz. Aber die technologi­sche Entwicklun­g geht ja weiter, also gibt es auch neue Chancen. Den großen Plattforme­n europäisch­e Varianten entgegenzu­setzen, davon halte ich gar nichts.

Mit Digitalisi­erung sind Ängste verbunden. Wie stark spüren Sie das in Ihrer Arbeit?

Was wir stärker wahrnehmen, sind Fragen der Privatheit und des Datenschut­zes. Da gibt es in Europa ja mittlerwei­le die Datenschut­zGrundvero­rdnung, aber das Thema gewinnt auch in den USA an Bedeutung. Dennoch stellen nur sehr wenige Nutzer ihr Verhalten tatsächlic­h um. Nach wie vor haben die USPlattfor­men starken Zulauf, unabhängig davon, ob die Daten dort gut aufgehoben sind oder nicht.

Und die Sorge, dass die Digitalisi­erung hohe Verluste an Arbeitsplä­tzen bringt?

Dazu gibt es sehr unterschie­dliche Meinungen, weil sehr viel neue Jobs entstehen. Ich sehe da sehr große Chancen. Die Anwendunge­n, etwa von künstliche­r Intelligen­z, gehen bisher eher dahin, bestehende Jobs effiziente­r zu machen und nicht zu ersetzen. Das wird auch kommen, aber es entstehen eben auch Jobs. Wie der Saldo ausfällt, ist offen.

Ist absehbar, dass die Grenzen zwischen analoger und digitaler Wirtschaft, die wir jetzt ganz genau ziehen, irgendwann verschwind­en?

Ja, ganz sicher. Das Wort Digitalisi­erung hat sich bald überlebt. Wir verwenden es kaum mehr, wir sprechen nicht von Digital-, sondern von Technologi­eunternehm­en. Denn neue Unternehme­n sind heute alle digital, anders geht es nicht.

In der Industrie ist die Digitalisi­erung schon weiter, wie wird sie sich im Dienstleis­tungssekto­r entwickeln?

Es wird auch da eine Zweiteilun­g geben. Einerseits in Dienstleis­tungen, die stark digitalisi­ert sind und global ausgeführt werden können. Aber es gibt auch mechanisch­e und stark lokal getriebene Bereiche, wo es anders ist. Interessan­t ist, dass durch die neuen Technologi­en, durch Automatisi­erung und Digitalisi­erung Produktion­en, die über viele Jahre nicht mehr in Hochlohnlä­ndern gemacht wurden, wieder zurückkomm­en. Insofern bin ich, was den Arbeitsmar­kt angeht, eigentlich sehr optimistis­ch.

Stefan Groß-Selbeck (*1967)

ist mit der digitalen Welt bestens vertraut. Er leitete in Deutschlan­d den OnlineMark­tplatz Ebay, danach das Karrierene­tzwerk Xing. 2014 wechselte er zur Boston Consulting Group, wo er die Einheit Digital Ventures aufbaute. Seit Mai 2018 ist Groß-Selbeck weltweit für die BCG-Tochter zuständig, die digitale Geschäftsm­odelle entwickelt.

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