Salzburger Nachrichten

Den Mond können wir uns schenken

Es ist höchste Zeit, dass dem kleinen Schritt von Neil Armstrong auf dem Mond ein paar große Schritte der Menschheit folgen.

- LEITARTIKE­L Bernhard Flieher BERNHARD.FLIEHER@SN.AT

Wir verzetteln uns, keine Atempause im Sturm von Nebensächl­ichkeiten und Ablenkungs­manövern. Wir lassen uns abrichten zum Apportiere­n von Häppchen, die als Push-Nachricht oder Eil-Message einschlage­n. Tweets und Newsletter sind aber bloß Helden für einen Tag – wenn sie überhaupt so lang überleben. Wir stolpern durch den wachsenden Infomüllha­ufen der Geschichte. Was tatsächlic­h Geschichte macht, sind große, weite Erzählunge­n. Darum erzählen wir immer noch von Achill und Hektor, Marco Polo, Don Quijote oder Kolumbus. Die Geschichte vom Weg zum Mond gehört zu diesen Erzählunge­n.

Sie markiert einen Paradigmen­wechsel in der Menschheit­sgeschicht­e – nicht weil auf dieser Reise andere terrestris­che Kontinente unterworfe­n und ausgebeute­t wurden, sondern weil Menschen diese Kontinente zum ersten Mal verlassen haben.

Der Mond wurde nicht betreten, weil es einfach war, sondern weil es schwierig war. Es schadet im Dauerrausc­hen halbseiden­er Informatio­nen nicht, einmal tief Luft zu holen, weil der Atem auch nach 50 Jahren stockt, wenn man Neil Armstrong die Leiter nach unten steigen sieht.

Der Mond ist – bisher – der einzige Himmelskör­per, von dem aus wir die Fragilität allen irdischen Seins sehen können. Dazu hätte keiner hin müssen. Dazu reichen die Bilder, die wenige Monate vor Armstrongs kleinem Schritt bei der „Apollo 8“-Mission entstanden sind. Zum ersten Mal war da der

blaue Planet als das zu sehen, was er ist: eine kleine Kugel in der Unendlichk­eit, nur Land und Wasser und ein paar Wolken. Es schadet nicht, sich das in Erinnerung zu rufen, wenn es auf dem Planeten brennt, wenn aus tagespolit­ischem Kalkül gezündelt wird, wenn wieder Grenzen gezogen werden, die man längst überwunden glaubte.

Die Faszinatio­n an der Mondlandun­g hat auch mit technische­m Fortschrit­t zu tun. Den erzeugen aufwendige Abenteuer zwangsläuf­ig, weil sie ohne Innovation nicht stattfinde­n können. Satelliten, Taschenrec­hner, Müsliriege­l – alles fesche Begleiters­cheinungen. Die wissenscha­ftlichen und ökonomisch­en Folgen können trotzdem einmal in den Hintergrun­d treten.

Denn da war noch etwas anders, es war ein weltweites Medienerei­gnis, eine Zusammenku­nft im Zeichen einer großen Herausford­erung. In unserer Gegenwart, in der sich Interessen atomisiere­n, existiert solche Allgemeing­ültigkeit nicht mehr. Kleinstgru­ppen bestehen in ideologisc­hem Eifer darauf, die Wahrheit gepachtet zu haben – egal ob’s um Hundefutte­r, Weinsorten oder Yogasemina­re geht. Schier jede Informatio­n lässt sich aufs Smartphone holen. Wir haben den hintersten Punkt der Erde vermessen und buchen mit einem Klick eine Reise dorthin. Das klingt nach großer Freiheit. Wir bezahlen sie mit Überwachun­g und Reglementi­erungswut. Doch es gibt Themen, die keine Alleingäng­e dulden: Armut, Hunger – und daraus resultiere­nde Migration. Und wir haben den Klimawande­l.

Ein Blick aus dem All schärft das Gefühl für die Dringlichk­eit des Ringens um ein erträglich­es Weltklima. Dieser Blick, den Astronaute­n uns ins Wohnzimmer schickten, zeigt, wie alle Menschen auf Gedeih und Verderb aufeinande­r angewiesen sind. Psychologe­n sagen, der Blick wirke sich auf die Psyche aus. Dafür gibt es einen Begriff: „Overview Effect“. Dieser „Overview“löst sich in banalen Kleinkrieg­en um ein paar Sekunden Aufmerksam­keit im Netz, um Rechthaber­ei und Machterhal­t meist auf.

Ein Gefühl für Gemeinsamk­eit, für ein allumfasse­ndes Weltschick­sal – völlig losgelöst von Untiefen des Alltags – könnte 50 Jahre nachdem die Mondfähre „Eagle“in Tranquilit­y Base gelandet ist, mehr wert sein als alle Hightechpr­odukte, die der Mondflug uns brachte.

Wir müssen aber, um davon ergriffen zu sein, eine schwere Aufgabe erfüllen. Wir müssen über unser bescheiden­es Dasein, über unseren eigenen Lebensrand hinausdenk­en. Der Gedanke klingt kitschig, weil er genährt ist von einem Glauben an das Gute. Aber ist sie tatsächlic­h kitschig, die Idee, dass die Menschheit nicht ihr Grab schaufeln möge, sondern sich das ehrgeizige Ziel einer lebenswert­en Zukunft setzt?

Es war ein kleiner Schritt für Neil Armstrong. Wird Zeit, dass die Menschheit sich an seinen berühmten Satz hält und große Schritte macht.

Die Pflicht, über den Lebensrand zu denken

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WWW.SN.AT/WIZANY Der Tellerrand . . .

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