Den Mond können wir uns schenken
Es ist höchste Zeit, dass dem kleinen Schritt von Neil Armstrong auf dem Mond ein paar große Schritte der Menschheit folgen.
Wir verzetteln uns, keine Atempause im Sturm von Nebensächlichkeiten und Ablenkungsmanövern. Wir lassen uns abrichten zum Apportieren von Häppchen, die als Push-Nachricht oder Eil-Message einschlagen. Tweets und Newsletter sind aber bloß Helden für einen Tag – wenn sie überhaupt so lang überleben. Wir stolpern durch den wachsenden Infomüllhaufen der Geschichte. Was tatsächlich Geschichte macht, sind große, weite Erzählungen. Darum erzählen wir immer noch von Achill und Hektor, Marco Polo, Don Quijote oder Kolumbus. Die Geschichte vom Weg zum Mond gehört zu diesen Erzählungen.
Sie markiert einen Paradigmenwechsel in der Menschheitsgeschichte – nicht weil auf dieser Reise andere terrestrische Kontinente unterworfen und ausgebeutet wurden, sondern weil Menschen diese Kontinente zum ersten Mal verlassen haben.
Der Mond wurde nicht betreten, weil es einfach war, sondern weil es schwierig war. Es schadet im Dauerrauschen halbseidener Informationen nicht, einmal tief Luft zu holen, weil der Atem auch nach 50 Jahren stockt, wenn man Neil Armstrong die Leiter nach unten steigen sieht.
Der Mond ist – bisher – der einzige Himmelskörper, von dem aus wir die Fragilität allen irdischen Seins sehen können. Dazu hätte keiner hin müssen. Dazu reichen die Bilder, die wenige Monate vor Armstrongs kleinem Schritt bei der „Apollo 8“-Mission entstanden sind. Zum ersten Mal war da der
blaue Planet als das zu sehen, was er ist: eine kleine Kugel in der Unendlichkeit, nur Land und Wasser und ein paar Wolken. Es schadet nicht, sich das in Erinnerung zu rufen, wenn es auf dem Planeten brennt, wenn aus tagespolitischem Kalkül gezündelt wird, wenn wieder Grenzen gezogen werden, die man längst überwunden glaubte.
Die Faszination an der Mondlandung hat auch mit technischem Fortschritt zu tun. Den erzeugen aufwendige Abenteuer zwangsläufig, weil sie ohne Innovation nicht stattfinden können. Satelliten, Taschenrechner, Müsliriegel – alles fesche Begleiterscheinungen. Die wissenschaftlichen und ökonomischen Folgen können trotzdem einmal in den Hintergrund treten.
Denn da war noch etwas anders, es war ein weltweites Medienereignis, eine Zusammenkunft im Zeichen einer großen Herausforderung. In unserer Gegenwart, in der sich Interessen atomisieren, existiert solche Allgemeingültigkeit nicht mehr. Kleinstgruppen bestehen in ideologischem Eifer darauf, die Wahrheit gepachtet zu haben – egal ob’s um Hundefutter, Weinsorten oder Yogaseminare geht. Schier jede Information lässt sich aufs Smartphone holen. Wir haben den hintersten Punkt der Erde vermessen und buchen mit einem Klick eine Reise dorthin. Das klingt nach großer Freiheit. Wir bezahlen sie mit Überwachung und Reglementierungswut. Doch es gibt Themen, die keine Alleingänge dulden: Armut, Hunger – und daraus resultierende Migration. Und wir haben den Klimawandel.
Ein Blick aus dem All schärft das Gefühl für die Dringlichkeit des Ringens um ein erträgliches Weltklima. Dieser Blick, den Astronauten uns ins Wohnzimmer schickten, zeigt, wie alle Menschen auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. Psychologen sagen, der Blick wirke sich auf die Psyche aus. Dafür gibt es einen Begriff: „Overview Effect“. Dieser „Overview“löst sich in banalen Kleinkriegen um ein paar Sekunden Aufmerksamkeit im Netz, um Rechthaberei und Machterhalt meist auf.
Ein Gefühl für Gemeinsamkeit, für ein allumfassendes Weltschicksal – völlig losgelöst von Untiefen des Alltags – könnte 50 Jahre nachdem die Mondfähre „Eagle“in Tranquility Base gelandet ist, mehr wert sein als alle Hightechprodukte, die der Mondflug uns brachte.
Wir müssen aber, um davon ergriffen zu sein, eine schwere Aufgabe erfüllen. Wir müssen über unser bescheidenes Dasein, über unseren eigenen Lebensrand hinausdenken. Der Gedanke klingt kitschig, weil er genährt ist von einem Glauben an das Gute. Aber ist sie tatsächlich kitschig, die Idee, dass die Menschheit nicht ihr Grab schaufeln möge, sondern sich das ehrgeizige Ziel einer lebenswerten Zukunft setzt?
Es war ein kleiner Schritt für Neil Armstrong. Wird Zeit, dass die Menschheit sich an seinen berühmten Satz hält und große Schritte macht.
Die Pflicht, über den Lebensrand zu denken