Brexit-Boris ist im Anflug
LONDON. Vielleicht war alles unausweichlich. Bahnte sich irgendwie an, schon vor 30 Jahren, als der Brexit noch in weiter Ferne lag, aber ein Mann namens Alexander Boris de Pfeffel Johnson von London nach Brüssel entsandt wurde als junger Korrespondent für den „Daily Telegraph“. Er lieferte einen Aufreger für die Titelseite nach dem anderen. Die EU wolle den Briten begradigte Bananen und quadratische Erdbeeren aufzwingen. Sie wolle ihnen vorschreiben, dass ihr liebster Snack, fettige Chips, nicht mehr nach Krabben zu schmecken hätten, dass Kinder unter acht Jahren fortan keine Luftballons aufblasen dürften und dass die EU auch noch bei Großbritanniens heiligem Getränk herumzupfuschen versuche, indem sie das Recycling von Teebeuteln verbieten wolle.
Die Wahrheit blieb meist auf der Strecke. Aber geschenkt. Auf der Insel sogen sie die Märchen amüsiert und begierig auf. Die Kollegen der anderen Zeitungen rauften sich derweil die Haare und Boris Johnson wurde zu einer Marke, die er Katrin Pribyl berichtet für die SN aus London fortan in Fernsehshows bewarb und dann als schillernder Bürgermeister von London politisierte.
Vielleicht schließt sich nun einfach der Kreis. Vor wenigen Tagen stand der mittlerweile 55-Jährige auf einer Bühne einer Halle im Londoner Osten, auf der auch schon die Red Hot Chili Peppers gespielt hatten. Johnson, nicht Sänger, aber Entertainer gewiss, manche würden auch sagen: Popstar unter den Politikern, wedelte mit einem eingeschweißten Fisch herum, einem eingesalzenen Hering noch dazu, der doch irgendwie als Delikatesse der berühmten British Cuisine gilt. Er schimpfte er auf die Brüsseler Eurokraten, die angeblich einem verärgerten Fischhändler auf der Isle of Man in der Irischen See vorschrieben, stets ein Plastik-Eiskissen beim Versand beizulegen. Johnson wütete in rhetorischer Versiertheit und brachte sogar die sonst eher steifen Mitglieder der konservativen Partei zum Jubeln. Auf die EU einzudreschen funktioniert auf der Insel so verlässlich wie der Smalltalk übers Wetter. Die Zuschauer in ihren XXL-„Back Boris“, „Stellt euch hinter Boris“-T-Shirts sind begeistert.
Viel Kampagne brauchte es gegen den Konkurrenten Jeremy Hunt, Typ langweiliger Opportunist und perfekter Schwiegersohn, ohnehin nicht. Die beiden, ehemaliger Außenminister gegen den amtierenden, stehen im Wettbewerb um die Nachfolge der scheidenden Parteivorsitzenden Theresa May. Es ist ein Selbstläufer für Johnson. Er wird nächste Woche als neuer Premierminister in Downing Street einziehen. Dafür ignorieren seine Fans, dass ihn Details nicht interessieren und die Sache mit dem Fisch und dem Kühlbeutel keineswegs auf einer EU-Vorschrift basiert, sondern eine britische Regelung ist. Ach, Boris eben. So einfach ist das. Manche nennen das Schauspiel frustrierend – wer kann es ihnen verdenken.
Vielleicht ist alles aber auch nur schrecklich aus dem Ruder gelaufen in einem Land, in dem einst ein gesunder Pragmatismus dominierte, eine auf dem Kontinent unerreichte Weltoffenheit herrschte und der arme Hering nicht zu Wahlkampfzwecken herhalten musste, sondern – Geschmack hin oder her – bereits zum Frühstück auf dem Tisch landete.
Es stellt sich dann doch unausweichlich diese eine Frage: Sind die Briten übergeschnappt? Boris Johnson Premierminister! Damit hat er zwar sein Lebensziel erreicht. Das sollte persönlich genügen. Ob es das für das Land ebenfalls tut? Den Brexit will er bis 31. Oktober durchziehen, und sei es ohne Austrittsabkommen. Das dürfte seit Donnerstag deutlich schwieriger werden, nachdem Johnson, noch nicht einmal im Amt, seine erste Abstimmungsniederlage im Parlament hinnehmen musste. Das Unterhaus verabschiedete einen Gesetzeszusatz, der den künftigen Premier daran hindert, einen No-Deal-Brexit unter Umgehung der Abgeordneten durchzusetzen.
Johnson, der Wortführer der Brexit-Kampagne, ist auch unter den Parlamentariern umstritten. Aber viele Konservative meinen, dass nur er den rechtspopulistischen EU-Hasser Nigel Farage auf Distanz halten kann. Außerdem liege eine