Beim Sex zählt auch nur die Wahrheit
Über das Auftauchen von Nebensätzen, die einen in der Nebenrolle als Vater überraschend glücklich machen.
Früher waren es Rolltreppen und Zebrastreifen. Das waren die großen Gefahrenquellen bei einer Städtereise. Jetzt chillt Lolinger durch den letzten Feriensommer vor der Oberstufe. In diesem Zustand kann man Zebrastreifen vergessen. Das ist das Alter, in dem man lernt, bei Rot zu gehen, wenn der Verkehr passt. Die Gefahr ist aber nicht verschwunden. Sie hat nur den Platz gewechselt. Es tauchen jetzt jede Menge absolut nice Schuhgeschäfte auf, genauer: Sneakers Footshop und StreetwearPower und World of Sneakers. Es gibt so unfassbar viele Schuhgeschäfte. Mit so unfassbar vielen hässlichen Schuhen. „Special Editions“, sagt Lolinger. Von so vielen unterschiedlichen Marken. Waren das Zeiten, als die Welt simpel in Puma und Adidas zu unterteilen war, möchte ich fast sagen. Ich verkneife es mir. Die Früher-Sätze sind eine schreckliche Falle. „Im Prinzip reichen zwei Paar: eins im Sommer, eins im Winter. Kein Mensch braucht Schuhe, um glücklich zu sein.“Oh no, ich habe das jetzt wirklich gesagt. Aber ich bin sicher, es mit einem Grinsen gesagt zu haben und mit einem klar erkennbaren ironischen Unterton. Egal. Die Worte werden eh wegignoriert von Lolinger und ihrer Freundin Helene. Die war auch mit in der fremden Stadt. Was so freilich gar nicht stimmt. Die beiden hatten mir erlaubt mitzukommen. Das lag daran, dass beide irgendwie doch eingesehen haben, dass sie noch nicht allein reisen dürfen. Ich definierte die Rolle als Nebenfigur aber durchaus offensiv, wenn es um nebenbei hingeworfene Infos über Sehenswürdigkeiten, Geschichte und Politik oder um gesellschaftliche Zustände, lokale Spezialitäten und den globalen Konsumterror ging. Wenn man wo fremd ist, reicht es ja eher nicht, Schuhgeschäfte zu studieren. Dann kommt man heim wie die Cluburlaub-Touristen in der Türkei, die dann behaupten, etwas von der Türkei gesehen zu haben. Es ist wie beim Sex. Du kannst erklären und erzählen, was du willst, am Ende zählt nur die Erfahrung der Realität. Also heraus mit der Kreditkarte, hinein ins Schuhgeschäft.
„Manche sind echt nice“, sagt Lolinger nach zwei Runden zwischen den meterhohen Regalen in dem schicken Shop. „Irgendwie ist das aber schon alles austauschbar, weil es das ja überall auf der Welt gibt“, sagt sie auch noch.
Das ist dann zwischen grellen gelben NikeSuperirgendwas und den recht lässigen schwarz-roten Jordans ein seltener Moment des Glücks, in dem man den Mund hält und innerlich lächelt. Nur kurz. Aber doch. Es kann nämlich sein, dass sich dieser Moment nach der nächsten Hausecke auf dem Weg zu einem Museum vor einem real nicen Vintage-Laden oder einem hippen Fetzengeschäft schon wieder verflüchtigt hat. Das geht verdammt schnell. Jetzt aber wird genossen. Natürlich darf man das nicht laut sagen. „Mhh, hast sicher recht“, sage ich im nebensächlichsten Ton und mit der belanglosesten Miene, zu denen ich imstande bin, während ich innerlich eine Siegesfaust balle. WWW.SN.AT/FLIEHER