Alles, was nötig ist. Aber was geht noch?
Im Jahr 2012 bewahrte EZB-Präsident Mario Draghi die Eurozone vor dem Zerfall. Seitdem verfolgt die Notenbank eine extrem lockere Geldpolitik. Wenige Monate vor dem Ende seiner Amtszeit könnte Draghi noch einmal nachlegen.
Draghis Vermächtnis: den Euro gerettet, den Zins geschreddert
Vor nunmehr sieben Jahren, am 26. Juli 2012, sagte Mario Draghi bei einer Rede auf einer Investment-Konferenz in London den wohl wichtigsten Satz in seiner Amtszeit als Präsident der Europäischen Zentralbank. Die EZB sei im Rahmen ihres Mandats „bereit, alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu bewahren. Und glauben Sie mir, es wird ausreichen.“Tatsächlich gelang es Draghi, der erst neun Monate im Amt war, damit, Spekulanten in die Schranken zu weisen. Die Ansage, man werde es nicht zulassen, dass durch spekulative Angriffe auch nur das schwächste Mitglied aus der Eurozone hinausgedrängt werde, wirkte. Und sie wirkte so stark, dass das als Konsequenz beschlossene OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) nie aktiviert werden musste.
Draghis rhetorischer Befreiungsschlag war freilich nur der Auftakt für eine Reihe von Maßnahmen unkonventioneller Geldpolitik, die unter seiner Ägide in der EZB zur Normalität werden sollten. Als da wären: negative Einlagezinsen für Geld, das die Geschäftsbanken bei der EZB deponieren, ein Leitzins, der seit März 2016 bei null Prozent liegt und vor allem der Kauf von Wertpapieren im großen Stil. Im Jahr 2014 wurde mit verbrieften Papieren gestartet, ab 2015 erwarb die EZB – in einem inund außerhalb umstrittenen Programm – dann auch Staatsanleihen. Insgesamt hat die EZB Wertpapiere um 2600 Mrd. Euro in ihre Bücher genommen, davon entfallen rund 2100 Mrd. Euro auf Anleihen von Euroländern. Seit Anfang 2019 kauft die EZB zwar keine zusätzlichen Anleihen mehr, reinvestiert aber die Erträge aus auslaufenden Papieren weiter voll in den Markt. Von einer Abkehr von der extrem lockeren Geldpolitik kann also keine Rede sein.
Und von einer Zinswende schon gar nicht. In etwas mehr als drei Monaten, wenn Draghi seinen Sessel im EZB-Turm in Frankfurt räumt, werden ihm – diese Prognose ist kein großes Wagnis – zwei Etiketten anhaften. Draghi wird in die Annalen der EZB als Präsident eingehen, der den Zerfall der Eurozone abgewendet hat. Und als der, der niemals den Leitzins erhöhte.
An gut gemeinten Ratschlägen aus der Politik, allen voran aus Deutschland, die EZB sollte die Zinswende wagen, fehlte es nie. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte vor wenigen Tagen, man müsse die Niedrigzinspolitik der EZB auf den Prüfstand stellen. Das sei eine Aufgabe, die nun auf Christine Lagarde zukomme. Die Chefin des Internationalen Währungsfonds soll ja laut Vorschlag der EU-Staats- und Regierungschefs Mario Draghi im November an der EZB-Spitze ablösen. Ob Lagarde die Zinswende bringt, ist allerdings mehr als fraglich.
Die französische Juristin ist bisher eher dadurch aufgefallen, dass sie die Geldpolitik der EZB als angemessen verteidigte. Einig waren sich die beiden auch darin, dass die Politiker einen zu geringen Beitrag leisten, um den Konjunkturmotor am Laufen zu halten, und dass sie die Niedrigzinsphase zu wenig dafür nutzen, die hohen Schuldenstände zu verringern. Man kann davon ausgehen, dass Lagarde diesen Appell wie Draghi bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig wiederholen wird. Ob sie mehr Gehör finden wird, ist völlig offen.
Ortswechsel auf die andere Seite des Atlantiks. Dort hat Notenbank-Chef Jerome Powell, ständig mit Zurufen von US-Präsident Donald Trump zu kämpfen, der ihn unverhohlen auffordert, die Zinsen zu senken. Bisher zeigte sich Powell davon unbeeindruckt. Aber weil die von Trump angezettelten Handelskonflikte mittlerweile die US-Wirtschaft bremsen, könnte Powell nichts anderes übrig bleiben, als die Zinsen tatsächlich zu senken – und damit notgedrungen den Eindruck erwecken, der Präsident der Fed beuge sich politischem Druck. Für die USA wäre eine Zinssenkung, die Beobachter bereits für Juli erwarten, eine echte Wende. Im Vorjahr hatte die US-Notenbank die Zinsen in vier Schritten auf eine Spanne von 2,25 bis 2,5 Prozent erhöht, um zu verhindern, dass der brummende US-Konjunkturmotor heißläuft.
So sehr die Notenbanker in Europa und in den USA auch damit hadern mögen, dass ihnen Politiker immer wieder als Ratschläge getarnte Aufforderungen zurufen, so wenig müssen sie um ihr Amt fürchten. Die Checks und Balances in Demokratien funktionieren noch immer so gut, dass Trump auf Twitter in immer kürzeren Abständen seinem Unmut über Powells Geldpolitik Luft macht, aber der Notenbankchef nicht um sein Amt bangen muss.
Im Unterschied zur Türkei, wo der Autokrat Recep Tayyip Erdoğan Anfang Juli den Chef der Notenbank über Nacht seines Amtes enthoben hat. Dieser hatte den Despoten mit seiner Hartnäckigkeit gereizt. Während Erdoğan Zinssenkungen verlangte, tat Zentralbank-Chef Murat Çetinkaya genau das Gegenteil – er erhöhte die Zinsen, um den Verfall der Türkischen Lira und den Anstieg der Inflation zu bremsen.
Zurück in die Eurozone, wo am 25. Juli die nächste Sitzung des EZB-Rates ansteht. Gut möglich, dass Draghi auch diesen Sommer dafür nutzt, um der Geldpolitik noch einmal seinen Stempel aufzudrücken. Schon Mitte Juni hat er das Feld aufbereitet, als er eine weitere geldpolitische Lockerung ankündigte, falls die Inflation nicht anziehe. Analysten spekulieren bereits darüber, dass die EZB den Einlagezins für Geschäftsbanken weiter ins Minus treiben könnte – von 0,4 auf 0,5 Prozent. Ob Draghi darüber hinaus auch das Quantitative Easing mit neuem Leben erfüllt und die EZB ihr Kaufprogramm wieder aufnimmt, ist offen. Allerdings wird das dafür auf dem Markt erhältliche Material schon knapp. Aber wer weiß, vielleicht hat Draghi ganz andere Pläne. Sieben Jahre nach „Alles, was nötig ist“könnte er die Märkte wieder überraschen. Diesmal mit der Botschaft „Was alles noch möglich ist“. Was das sein kann, weiß derzeit nur Mario Draghi.