Ängste eines Huhnes
Wir fürchten das Falsche. Warum haben wir mehr Angst vor Ausländern als vor Krebs? Fürchten Wölfe mehr als Haushaltsunfälle, Donald Trump mehr als Alkolenker? Angstforscher Borwin Bandelow im Interview.
Die deutsche R+V-Versicherung fragt Bundesbürger jedes Jahr, wovor sie sich fürchten. Das aktuelle Ergebnis verblüfft: Da liegt doch glatt Donald Trump in Führung (siehe Grafik). Gefolgt von allen Themen rund um das Reizwort „Ausländer“. Um die Migrationskrise, um Terrorismus – um die klassischen „Fremdenängste“. Herzinfarkt und Krebs kommen dagegen gar nicht vor, obwohl daran Zehntausende Male mehr Menschen sterben. Borwin Bandelow, geboren in Göttingen, ist Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut. Er ist Experte für Angststörungen. SN: Herr Bandelow, die Deutschen haben Angst vor Donald Trump, Terror und verdorbenen Lebensmitteln. Ist das typisch deutsch oder auch auf Österreich übertragbar? Borwin Bandelow: Nun, ich bin mir ziemlich sicher, dass das sehr gut auf Österreich übertragbar ist. SN: Anscheinend haben wir also Angst vor den Sachen, die uns nur extrem selten in Gefahr bringen. Und das, was uns wirklich umbringt, ist uns egal. Tatsächlich ist es so: Ängste sind irrational, sie sind unvernünftig. Das ist jetzt so, das war früher so, das liegt in der Natur des Menschen. SN: Dass er sich vor dem falschen fürchtet? Wäre unlogisch. Einerseits ja. Andererseits: Das, was wir fürchten, speist sich fast immer aus Urängsten. Also Dingen, die uns seit Jahrhunderttausenden einprogrammiert sind. Nehmen Sie einmal diese Xenophobie, die Fremdenangst: Sie hat Menschen über unzählige Generationen hinweg beim Überleben geholfen. SN: Wie denn das? Weil wir ewige Zeiten in ganz kleinen Gruppen, in Stämmen, zu 30 oder 40 Leuten durch Savannen und Wälder gezogen sind. Da war es wichtig, ein ganz starkes Gruppenbewusstsein zu haben, zusammenzuhalten. Vor anderen Gruppen, die rauben, plündern oder die Frauen entführen wollten, hat man Angst und Misstrauen entwickelt. Und da Urängste zu 50 Prozent vererbt werden, steckt das Stammesdenken heute noch in unseren Gehirnen. SN: Aber wir leben nicht mehr in der Savanne. Warum also noch Fremdenhass wie unter Steinzeitmenschen? Natürlich sind wir auch zu rationalem Denken fähig, zum Überlegen, zum Reflektieren. Aber diese Fähigkeiten sind in den jüngeren, komplexeren Teilen des Hirns angesiedelt. Sie sind oft im Zweifelsfall schwächer als die, die Millionen von Jahren alt sind. Das Urangstgehirn ist etwa auf dem intellektuellen Niveau eines Huhnes angesiedelt – auch bei intelligenten Menschen. Das Vernunftgehirn dagegen kann zwar auch Angst vor Zuwanderung haben – aber es ist in der Lage, das Für und Wider abzuwägen. Die beiden Gehirnteile streiten sich – und ob das Vernunftgehirn gewinnt, hängt dann oft von Anstand und Zivilcourage ab. SN: Komischerweise sind Krebs oder Herzinfarkte bei Weitem keine so emotionalen Angst-Themen. Nein, und das ist natürlich kurios, weil an diesen beiden Dingen in der westlichen Welt die meisten Menschen tatsächlich sterben. Aber: Es gibt keine Urangst für Krebs. Tumore, Medizin, Chemotherapie – das ist alles nur intellektuell erfassbar, das ist wieder der modernere Teil des Gehirns. Und dort werden eben nicht vorrangig Ängste ausgelöst. SN: Darum gibt es Demos gegen Überfremdung – aber für bessere Chemotherapie oder mehr Gesundenuntersuchungen geht kein Mensch auf die Straße. Ja, leider. Unsere irrationalen Ängste prägen unsere Gesellschaft auch politisch, und nicht immer zum Besten. SN: Dafür haben viel mehr Menschen Angst vor Nahrungsmittelvergiftungen. Ja, weil vergiftete Nahrung eben auch schon damals in der Savanne gefährlich war. Deshalb ist das eine Urangst. Ein Gegenbeispiel: Radioaktive Strahlung wird viel weniger gefürchtet, als man annehmen könnte. Denn: Man kann sie nicht sehen, nicht riechen, vorerst auch nicht spüren, sie ist nur intellektuell begreifbar. Das schwächt das Angstgefühl. SN: Nach dem Reaktorunfall in Fukushima waren aber schon viele in Panik. Ja, aber das ist das zweite Kennzeichen von vielen Ängsten: Sie sind extrem schnell veränderlich, unterliegen Moden, kommen und gehen. Ich habe da so meine Vier-WochenRegel: Wenn irgendetwas Schlimmes passiert, haben die Menschen etwa vier Wochen Angst, dann beruhigen sie sich wieder – dabei war vier Wochen nach dem Unglück in Fukushima die Gefahr längst nicht gebannt. SN: Vor dem Atomkrieg fürchtete man sich aber jahrzehntelang. Stimmt – diese Bilder aus Hiroshima und von den Atompilzen: Da kann man die Gefahr sehen, spüren, das ist weniger abstrakt. Meine Generation ist auch noch mit den Ängsten vor der Sowjetunion und einer Invasion aufgewachsen. Das wurde eine Zeit lang weniger – und ist nach der Krim-Annexion durch Präsident Putin wieder stärker geworden. Gerade auch in Litauen oder der Tschechischen Republik. SN: Aber auch die Chance, dass die Russen einmarschieren, ist eher gering. Wie gesagt: Wir fürchten uns aufgrund von Urängsten, nicht aufgrund von Statistiken. 9000 Deutsche sterben pro Jahr bei Haushaltsunfällen. Aber davor hat keiner Angst. Vor ein paar Wölfen, die wieder bei uns heimisch werden, aber schon. Es starben in acht Jahren 24 Menschen weltweit durch Wölfe, meist in Indien und Pakistan. In einem Jahr gab es dagegen 24 tödliche Unfälle auf einer einzigen Autobahn in Deutschland, der A2. SN: Viele Menschen haben auch Angst wegen der Überforderung unserer Politiker. Was soll das sein – Inkompetenzphobie? Das hat auch mit Themen wie der Migration zu tun. Wenn etwa Politiker versprechen, illegal eingereiste Ausländer alle abzuschieben – und dann stellt sich heraus, das geht in den meisten Fällen gar nicht so einfach: Dann ist die Enttäuschung und Verzweiflung bei manchen Bürgern groß. Es wird von der Politik erwartet, schnell Abhilfe zu schaffen. Und da ist es völlig egal, dass ja die bestehenden Gesetze eingehalten werden müssen, zum Beispiel das Recht auf Berufung – diese intellektuell-rationalen Fragen interessieren die meisten dann nicht. Das Einzige, was Fremdenangst abbaut, ist, wenn ein Fremder im Nationalteam Fußball spielt. Dann ist er einer von uns. SN: Ja, aber wieso eigentlich? Das Trikot wirkt so wie ein Symbol für die Zugehörigkeit zum eigenen Stamm, für die Aufnahme in die Gemeinschaft. Wenn Jérôme Boateng im Berliner Dialekt redet, tut das sein Übriges, er ist dann „unser Junge“. SN: Früher hatten die Menschen auch noch Angst vor Zauberern, Hexen, vor der Hölle, dem Teufel selbst. Ist das endgültig vorbei? Natürlich ist das in Westeuropa sehr in den Hintergrund getreten. Angst vor der Hölle haben heute nur noch wenige. Aber schauen Sie etwa nach Haiti: Direkt nach dem großen Erdbeben 2010 hat man die Menschen dort nach ihren größten Ängsten befragt. Und natürlich erwartet: Man wird sich vor allem vor dem nächsten Erdbeben fürchten. Irrtum! Es war die Angst vor bösem Voodoo-Zauber.