Ganz normale Helden
Leidenschaft ist alles. Jeder sagt: Ich muss in die Arbeit. Kaum einer sagt: Ich will in die Arbeit. Wieso eigentlich? Der Lehrling zieht Zwischenbilanz und hat vor allem eines: Respekt.
Dieses Mal, und das sei gleich zu Beginn gesagt, wird der Lehrling nichts tun. Also nichts im herkömmlichen Sinn. Er wird keinen Kebab zubereiten, er wird sich nicht als Schulwart oder Hausmeister betätigen, er wird sich nicht zur Toilettenfrau oder zum Maronibrater ausbilden lassen, er wird nicht mit der Straßenbahn durch die Stadt kreuzen, sich nicht als Tagesvater versuchen, kein Speiseeis herstellen, nicht als Badewaschl über das Freibad wachen, keine Kunsteisbahn mit der Eismaschine glätten, er wird niemanden zu Grabe tragen, keinen Kran steuern, keinen Rauchfang kehren, nicht das Wetter beobachten und auch keine Briefe austragen. In all dem hat sich der Lehrling nämlich schon als solcher versucht.
Auch wenn 15 Berufe nicht gerade viel sind; in Wahrheit viel zu wenig, um es zu wagen, über die Arbeitswelt im Allgemeinen zu schwadronieren: Der Lehrling hat gelernt. Nicht so sehr die Tätigkeit selbst. Denn dafür hätte er mehr Zeit gebraucht. Viel mehr Zeit. Er hätte auch einiges über sich selbst herausgefunden. Etwa, wozu er taugt, wozu er weniger taugt, wo seine Stärken liegen, wo seine Schwächen. Ob irgendein „Job“gar verborgene Talente freigelegt hätte. Oder ob manches, von dem er dachte, es sei ein Kinderspiel, ihn heillos überfordert hätte. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Denn so eine Arbeit, die man Tag für Tag, für wie lange auch immer (früher hieß das: ein Leben lang) erledigt, die sollte schon zu einem passen.
Der Lehrling hat gelernt, dass es mehr bedarf als schlichten Beurteilens, was ihm gefallen hat und was weniger, was aufregend war und was tendenziell eintönig. Denn wer, bitte schön, kann schon mit Sicherheit sagen, dass ihm zum Beispiel der augenscheinliche Traumberuf des Speiseeisherstellers nicht irgendwann zum Halse heraushängt? Dass er, wie man so schön sagt, kein Eis mehr sehen kann. Und zwar just jenes Eis, an dem er so lange und mit so viel Herzblut herumgetüftelt hat, bis sich seine Kundschaft danach verzehrte. Oder dass man sich nach Jahren des Kranfahrens, dieses Auskostens grenzenloser Freiheit hoch über allen und allem, nicht plötzlich nach den Menschenmassen in einem übervollen Schwimmbad sehnt? Oder dem permanenten Lärmpegel einer Schule? Wer könnte so etwas garantieren?
Im Grunde niemand. Ein Beruf muss reifen, er muss eine Chance bekommen. Erst dann kann er zum Traumberuf werden. Die Toilettenfrau, die nach 20 Jahren sagt, es bereite ihr immer noch Freude – sie hat ihn. Der Eismeister, dessen Augen ebenso glänzen wie die von ihm bearbeiteten Eisflächen – auch er hat ihn.
Bei all seinen Chefs und Chefinnen hat der Lehrling eines immer vorgefunden: Leidenschaft. Sie alle taten das, was sie taten, mit Leib und Seele. Dass sie damit nicht reich würden, war ihnen bewusst. Dem Lehrling übrigens nicht. Der marschierte in so manche Ausbildung mit einer gehörigen Portion Naivität. Beim Straßenbahnfahren war das Erwachen besonders böse. Immerhin dachte er, dass man diese enorme Verantwortung, die man tonnenschwer hinter sich herzieht, quer durch den Stadtverkehr, auch dementsprechend vergütet bekäme. Falsch gedacht. Das Einstiegsgehalt ist – sehr behutsam formuliert – ein Skandal.
Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich ein Badewaschl nicht gerade darauf freut, ein halbes Jahr stempeln gehen zu müssen. Oder dass sich beim Maronibraten Plusgrade und Regen verheerend auf die Einnahmen auswirken. Dass ein Rauchfangkehrer nicht jubiliert, wenn er aufgrund langwieriger Beschwerden keine Stiegen mehr steigen darf und umschulen muss. Es ist eine Mischung aus Überlebenskampf und Stolz, den all diese unterschiedlichen Berufe prägen. Und niemand würde freiwillig hinschmeißen. Auch der Hausmeister nicht, dem man kaum noch Anerkennung zollt, den man nur noch ankeift, wenn irgendwo etwas nicht funktioniert, den man zu alledem einen Tachinierer heißt, weil man der Meinung ist, er läge den ganzen Tag auf der faulen Haut. Weil sich eben kaum noch jemand die Mühe macht, hinter die Kulissen zu blicken – und nicht ganz automatisch nach der ruhigen Kugel sucht, die dieser mutmaßlich schiebt. Es mag schwarze Schafe geben, keine Frage. Doch wo gibt es die nicht? Was mag sich ein Briefträger denken, wenn er in der Zeitung liest, dass ein überforderter Kollege im Keller monatelang die Post seiner Klientel gebunkert hat? Ganz genau: Ach du Sch...! Denn nun geht es los mit der Sippenhaftung. Sind doch alle gleich, die Postler. Drücken sich vor der Arbeit, wo es nur geht. Eine schwarze Maroni im Stanitzl? Klar: Alle Maronibrater sind Betrüger. Fällt ein Kind von der Schaukel? Logisch: Der Tagesvater ist ein sorgloser Taugenichts. Ist der Ruf einmal zerstört, lebt sich’s gänzlich unbeschwert. Falscher könnte eine Redewendung nicht sein. Denn sie alle, vom Schulwart bis zum Bestatter, vom Badewaschl bis zur Toilettenfrau, sie leiden, wenn die Nachrede übel ist. Wenn sie alle schon nicht die Welt viel verdienen, dann zumindest eines: Respekt.