Der alte Mann und der
Herman Melville. Nennt mich Spielverderber. Es geht hier nicht nur um den großen, weißen Wal. Es geht um den Mann, der bald 200. Geburtstag hätte, und der Moby-Dick losgeschickt und so die amerikanische Literatur erfunden hat.
Zum ersten Mal bläst einer in Kapitel 25. Aber das ist dann doch nur ein gewöhnlicher Pottwal. Es dauert noch 108 Kapitel, bis er erscheint, der große, weiße Wal, von dem man weiß, dass er das Schicksal Kapitän Ahabs besiegeln wird, und von dem man sagen muss, dass er – Schrecklicher oder doch Gerechter? – den Lauf der Literatur geändert hat. Seinen Schöpfer Herman Melville riss er auch in den Abgrund. Mit den Südsee-Romanen „Omu“und „Mardi“feierte Melville gegen Ende der 1840er-Jahre Erfolge bei Publikum und Kritik. Dann tauchte 1851 „Moby-Dick“auf und die Welt sah anders aus. Seinem britischen Verleger hatte Melville geschrieben, er werde mit einem neuen Werk fertig. „… ein Abenteuerroman, der auf gewissen wilden Legenden aus den Pottwalfanggebieten im Süden gründet, ausgeschmückt mit den eigenen persönlichen Erfahrungen des Autors aus seiner mehr als zweijährigen Zeit als Harpunier“. Er wüsste nicht, „dass das behandelte Thema jemals von einem Romancier, ja überhaupt von irgendeinem Schriftsteller in angemessener Weise bearbeitet worden wäre“. Stimmt. Und keiner mehr sollte es künftig auch nur annähernd so behandeln wie Melville. „Moby-Dick“, dieses Ungeheuer an Stimmgewalt und Stimmenvielfalt, muss wie aus einer fernen Literaturzukunft zu seinen Zeitgenossen gesprochen haben – am ehesten vergleichbar mit „Ulysses“von James Joyce im 20. Jahrhundert. Der Wal erzeugte in Melvilles Heimat eine Welle des Unverständnisses. Die wohlwollenden Kritiken, die es in England gab, bekam der Autor nie zu Gesicht. Von Herman Melville gibt es wenige Bilder. Meist ist er, dessen Geburtstag sich am 1. August zum 200. Mal jährt, mit recht ernster Miene zu sehen. Das Gesicht ist versteckt hinter seinem mächtigen Bart. Die Augen blicken unter den schweren Brauen nüchtern in die Welt. Einer ernsten, dunklen Figur sieht man ins Gesicht, einem Mann, von dem man sich gut vorstellen kann, dass er mit verbissenem Eifer schrieb.
Was Zeitzeugen über ihn sagten, verstärkt das Bild eines verschlossenen, zweifelnden Mannes. In einer aufregend gestalteten Biografie aus dem Jahr 2004 änderte sich an diesem Bild wenig. Herausgeber Daniel Göske und sein Co-Übersetzer Werner Schmitz legten damals mit „Ein Leben“ein solitäres Bravourstück hin. Mit Gründlichkeit und Kompetenz spürten die beiden einem nach, den man als literarisch Wütenden bezeichnen muss. Melville war einer, in dessen Texten nur selten ein Blick in die privaten Karten möglich ist. Melville ließ sich selbst in Briefen an engste Verwandte und Vertraute selten ganz bis auf den Boden von Herz und Seele blicken. Zu Todesfällen und Selbstmorden in der Familie äußerte er sich – wenn er es überhaupt tat – knapp und förmlich. Nur selten war in Briefen jene unstillbare Neugier zu spüren, die etwa aus seinen frühen Reisenotizen sprach. Erst der chronologische Ablauf, also die Kenntnis um äußere Ereignisse, auf die seine schriftlichen Aufzeichnungen reagieren, machen es einfacher, seine Freude (sehr selten) oder seine Verzweiflung (sehr oft) nachzuvollziehen.
Es wird schnell klar, dass Melville ein Leben lebte, das einem unbändigen Schreiben(-müssen) unterworfen war. Mit dieser Gewissheit erscheinen die Beweggründe dieses Schriftsteller-Lebens klarer, das nach frühen Erfolgen in der desolaten Einsamkeit der Schreibstube endete – und heute als epochal angesehen wird. Und es wird der Blick leichter auf einen fest glaubenden, ja bis zur Unerträglichkeit frommen und in seinem Glauben nach Antworten ringenden Mann. Immerhin werden seine Werke nach „MobyDick“mittlerweile unbestritten zu den bedeutendsten Gründungselementen einer eigenständigen amerikanischen Literatur gezählt.
Wer in die Melville-Wortwelt eintaucht, begegnet einem Unbarmherzigen, vielleicht auch einem Störrischen, aber immer einem, der eher litt, an Geldnot oder Ansehen, als sich verbiegen zu lassen. Wie er in seiner Literatur ein Berserker des Wortes, ein Kraftlackel der Bilder und ein Getriebener von biblischen Ausmaßen war, so zeigte er sich auch in Kritiken für das Wochenmagazin „The Literary World“, die er in den Jahren 1847 bis 1850 verfasste. Er stöberte nach dem Bodensatz, nach jenen Dingen, die die Welt zusammenhalten. Er suchte stets nach etwas, das man als „Wahrheit“bezeichnen könnte. Genährt wird der Zweifel am Erfolg der Melville’schen Wahrheitssuche durch einen Rat, den er Nathaniel Hawthorne, einem anderen Titanen einer eigenständigen US-Literatur und einem von Melville bewunderten Bekannten, im Juni 1851 gab: „Versuche von der Wahrheit zu leben – und geh in die Armenküche.“
Da unterliegt Melville freilich einem unter Reisenden weitverbreiteten Irrtum, dass die Wahrheit immer nur im Elend liege. Mitnichten. Arme, Kranke und über den Rand des gesellschaftlichen Abgrunds Gestoßene bilden nur eine Wahrheit, aber kein ganzes Bild. Damit hat sich die Kritik an Melville – egal ob als Literaturschöpfer oder Kritiker – aber auch schon wieder. Was immer er uns präsentiert, liest sich in schwergewichtigen, doch stets fein abgewogenen Worten wie ein großer Kampf um eine Wahrhaftigkeit, um eine Reinheit, die selten ist. In „MobyDick“verdichtet sich diese Suche, nur wollte das zu Melvilles Lebzeiten keiner wissen.
Herman Melville zog sich nach „Moby-Dick“gekränkt zurück. Als Zollinspektor arbeitete er bis zu seinem Tod in New York. Er wollte nur noch „gescheiterte“Bücher schreiben. Soweit das die Rezeption durch seine Zeitgenossen betraf, schaffte er das auch. Unter den „gescheiterten Büchern“war auch „Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten“oder das epische Gedicht „Clarel“. Zeitgenossen kommentieren die Werke mit dem Satz, dass der Autor „wohl verrückt“geworden sei.
Herman Melville starb 72-jährig im September 1891 in New York, wo er als drittes von acht Kindern einer schottischen Einwandererfamilie auch geboren worden war. 3000 Exemplare von „Moby-Dick“waren bis zu seinem Tod verkauft worden. Vielleicht war ein Buch, das sich um Rache ebenso wie um Religion, um Seefahrt ebenso wie um menschliche Abgründe, um Wellenbewegung ebenso wie um Gestirne, um Gemeinwohl ebenso wie um fanatische Egotrips, um den Tod und um das Überleben drehte, einfach zu viel. Melville war vergessen, als er starb. Erst die Nachwelt machte ihn neben seinem Bekannten Nathaniel Hawthorne, der als einer der wenigen wohlwollend auf „Moby-Dick“reagiert hatte, zur Gründergestalt eines ureigenen US-amerikanischen Romans – wenn man da überhaupt von Roman reden kann, bei einem Werk, das auch beim zigsten Mal Lesen – nennt mich Wiederholungstäter! – nie aufhört, immer noch neue Geheimnisse zu enthüllen.
Das Leben ist eine Reise, die heimwärts führt. Herman Melville, kaufmännische Hilfskraft und Schriftsteller