Das Recht zum „Nein!“
Ist Widerstand erlaubt? Vor 75 Jahren versuchten Offiziere, was eigentlich Hochverrat war: Den „Führer“zu ermorden. Wann dürfen Bürger gegen den Staat aufbegehren? Eine auch heute noch heikle Frage.
Am Ende stand die Hinrichtung: Der Offizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der Mann, der gegen Hitler aufgestanden war, wurde im Scheinwerferlicht von Wehrmachtsfahrzeugen standrechtlich erschossen. Auch seine Mitverschwörer sterben, nur wenige entkommen dem Zorn Adolf Hitlers.
Am 20. Juli 1944 hatte eine Handvoll deutscher Offiziere versucht, den „Führer“durch einen Staatsstreich zu beseitigen. Und zwar durch einen Sprengstoffanschlag während einer Besprechung in der Wolfsschanze, Hitlers Hauptquartier. Doch der Staatsstreich scheiterte, Hitler wurde nur leicht verletzt. Stauffenberg dagegen wurde zu einer Symbolfigur des deutschen Widerstands gegen das Naziregime.
Der Jahrestag des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler soll Anlass einiger Überlegungen über das Widerstandsrecht sein. Keineswegs sei damit gesagt, dass wir in einer Diktatur leben, die derartige Überlegungen gebietet oder gar mit dem Anlass vergleichbar wäre. Die grundsätzliche Frage aber, ob Widerstand zur Pflicht wird, wenn Unrecht zu Recht wird – diese grundsätzliche Frage ist zu allen Zeiten und in allen Systemen aktuell. 1944 haben sich Soldaten gegen ihren obersten Kriegsherren gestellt. Deshalb sollen die folgenden Überlegungen beim Militär beginnen.
Wann darf, wann muss ein Soldat einen Befehl verweigern? Die rechtliche Natur eines Befehls im Militär ist die einer Weisung, und unsere Verfassung ist in Bezug auf Weisungen, und das nicht nur für das Militär, explizit: Sie zu verweigern ist nur dann erlaubt, wenn sie „von einem unzuständigen Organ erteilt wurde oder die Befolgung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde“. Wenn also der zuständige Offizier einen Befehl erteilt, muss der Soldat ihn befolgen, es sei denn, er würde dadurch eine Straftat begehen. Wenn allerdings eine Straftat befehligt würde, dann ist der Soldat nicht nur von der Befolgungspflicht befreit, sondern er hat sogar die Pflicht zur Befehlsverweigerung. Das Gleiche gilt übrigens genauso auch in der übrigen Verwaltung. Andererseits: Wenn ein Befehl nur eine „einfache“Rechtswidrigkeit bedeuten würde, aber keine Straftat betrifft, muss sehr wohl Gehorsam geleistet werden. Warum? So wollten die Väter der Verfassung einerseits die Verwaltung hierarchiegebunden unter den demokratischen Willen des Parlaments stellen. Und andererseits (zumindest seit der Novelle 1925) die schwerwiegendsten Missbräuche des Weisungsrechts, nämlich die Anordnung von Straftaten, dennoch explizit verbieten.
Wie das aber so oft mit juristischen Lösungen der Fall ist, ist das, was zunächst als klar und beruhigend erscheint, bei genauerem Hinsehen doch nicht so klar. Die Frage ist nämlich einerseits, wie gut die juristischen Kenntnisse der Soldaten sind, die einen strafrechtswidrigen Befehl verweigern sollten. Und andererseits: Schon in der Formulierung liegt ja eine gewisse Paradoxie. Der Soldat soll, wie gesagt, einen Befehl nicht befolgen, wenn der gegen das Strafrecht verstoßen würde. Aber: Wer einen Befehl gibt, der geltendes Recht verletzen würde – dessen Befehl ist ja ungültig. Und damit, etwas vereinfacht, eigentlich kein Befehl mehr. Und muss deshalb gar nicht erst verweigert werden, er gilt einfach nicht. Also muss man z. B. als einfacher Soldat gar keinen Befehl „verweigern“– weil wenn ein Befehl tatsächlich gültig wäre, müsste der Befehl als Voraussetzung logischerweise schon einmal strafrechtskonform sein.
Um solches Recht praktisch und vernünftig anwenden zu können, muss man die Regel deshalb so verstehen, dass gerade die ganz offenkundig rechtswidrigen Weisungen verweigert werden sollen. Was jetzt aber besonders „offenkundig“rechtswidrig ist, das kann ein Soldat eigentlich nur durch ein persönliches Werturteil feststellen. Und somit sind wir am Ende doch wieder bei einer Gewissensentscheidung auf eigenes Risiko – und nicht bei einer Art von rechtlichem Algorithmus, der dem Soldaten die Last der Entscheidung abnimmt.
Die nächste Frage wäre nun, ob auch die ganze Zivilbevölkerung die Befolgung von Gesetzen, Weisungen und Ähnlichem verweigern darf. Dazu findet sich im österreichischen Recht keine ausdrückliche Anordnung. Eigentlich bedeutet dies, dass es so eine allgemeine Möglichkeit, ein Gesetz nicht zu befolgen, nicht gibt. In Deutschland dagegen ist dieses Widerstandsrecht in der Verfassung, dem Grundgesetz 1949, schon gesichert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese [demokratische verfassungsmäßige] Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“Dies ist eine moderne Version des mittelalterlichen „ius resistendi“, welches auch an die antike Idee des Tyrannenmords anknüpft. Eine Paradoxie kann aber auch die deutsche Regelung nicht vermeiden: Solange das Grundgesetz noch funktionsfähig ist, das heißt, solange „andere Abhilfe“noch möglich ist, kann diese Bestimmung nicht zur Anwendung kommen. Wenn das Grundgesetz aber nicht mehr funktionsfähig ist, dann scheint diese Ermächtigung ohnehin irrelevant zu sein, da sie in diesem Fall in einer toten Verfassung zu finden ist. Dann gibt es, genau genommen, aber auch keine rechtlich geltende Ermächtigung mehr zum Widerstand – und dann kann es auch keine rechtlich geltende Pflicht mehr geben, für die demokratische Ordnung zu kämpfen.
Die Rechtsordnung verspricht oft Lösungen dafür, gegenüber der Rechtsordnung Widerstand zu leisten. In alltäglichen Situationen, etwa wenn man einen gesetzwidrigen baurechtlichen Bescheid bekämpfen will, wird dieses Versprechen tatsächlich gehalten: Es gibt z. B. ein Verfahren zur Bekämpfung des Bescheids beim Landesverwaltungsgericht. Gerade aber in den schwerwiegendsten und extremsten Situationen werden wir Bürger in Wahrheit alleingelassen. Wenn der Soldat einen rechtswidrigen Befehl bekommt oder wenn die demokratische Maschinerie der Rechtsordnung versagt, was bleibt? Oft muss sich der Mensch auf sein Gewissen verlassen. Und das ist wahrscheinlich auch richtig so. András Jakab ist Professor für Verfassungsund Verwaltungsrecht an der Uni Salzburg.