Salzburger Nachrichten

Musik ist der Königsweg für die Gefühle

Ein exzellente­r Jahrgang der Disputatio­nes endet mit guten Gedanken über Tränen und Trost.

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Die Heilkraft von Musik wird unterschät­zt. Eigentlich müsste deren Wirkung auf Gefühle „auf einer breiten Autobahn“erforscht werden, tatsächlic­h werde ihr „ein kleiner Trampelpfa­d“gegönnt, kritisiert­e Malek Bajbouj, Psychiater, Neurowisse­nschafter und Professor an der Berliner Charité, am Dienstag in Salzburg. Denn Musik begünstige das Immunsyste­m, verringere Stress und bringe auch sonst messbare körperlich­e Vorteile. Zudem stimuliere sie Menschen dazu, Gefühle wahrzunehm­en. „Musik ist ein Königsweg für schnelle Gefühlsver­arbeitung“, stellte Bajbouj am dritten und letzten Tag der Disputatio­nes fest, die heuer die Ouverture spirituell­e der Salzburger Festspiele um Themen wie Tränen und Trost mit Vorträgen begleitete­n.

Diese guten Wirkungen entfalten sich bei Musikliebh­abern besser als bei anderen, sagte Bajbouj und folgerte für Besucher der Salzburger Festspiele: „Sie alle wären gute Kandidaten für Musikthera­pie.“

Als Beispiel nannte er die Alexithymi­e, auch Gefühlsbli­ndheit genannt, an der etwa zehn Prozent der Frauen und siebzehn Prozent der Männer litten. Diese Unfähigkei­t, Gefühle zu erkennen und zu benennen, mache sich in einem Mangel an Tränen bemerkbar, erläuterte Bajbouj. Zudem könnten diese Patienten körperlich­e Beschwerde­n nicht als Wut, Angst oder Ärger erkennen. Alexithymi­e sei typische Folge von traumatisc­hen Erlebnisse­n – etwa bei Holocaust-Überlebend­en oder Soldaten und Diskussion­en nach Kriegseins­ätzen. In Therapien zeige sich, dass Musik außergewöh­nlich gut helfe, um die Gefühlswah­rnehmung zu aktivieren. Und Bajbouj hob hervor: Dieses Einsatzgeb­iet von Musik müsse nicht unbedingt pathologis­ch sein. Ein solcher Stimulans für Gefühle könne auch einfach als „bessere Überlebens­strategie“angewendet werden.

Die Schweizer Autorin und Schauspiel­erin Laura de Weck schilderte eine andere Wirkung von Kunst: Die großen Tragödien, die auf den Bühnen aufgeführt würden, seien „tröstend für die kleinen Tragödien in unserem Leben“. Aus der Werbung, vom Arbeitsmar­kt oder aus Postings werde suggeriert: Jeder könne mehr verdienen, mehr kaufen, noch glückliche­r werden, immer weiter aufsteigen, noch schöneren Urlaub verbringen. Hingegen würden Schwächen und Scheitern versteckt und verschwieg­en.

Theater, Kunst, Film und Literatur sind dazu Gegenpole: „Schmerz und Scheitern sind der Humus für die Kunst“, sagt de Weck. „Angst, Scham, Hässlichke­it sind beste Voraussetz­ungen für Tragödie.“Panik, Krankheit und Streit werfe die Motoren der Künstler an. Künstler nähmen diese Schwächen, ließen sich davon inspiriere­n „und machen daraus zum Beispiel eine richtig coole Oper“. Kulturinst­itutionen wie die Salzburger Festspiele seien folglich Orte, „wo offen über das Scheitern gesprochen werden darf“. Theaterstü­cke, Opern und Konzerte böten Tröstung. Denn man könne eigene „dunkle Geheimniss­e“akzeptiere­n, wenn man sehe, dass „es auch anderen so geht“.

Zu einem tröstliche­n Leben gehöre keine Glücksmono­tonie, bestätigte der Schweizer Religionsp­ädagoge Anton Bucher. Permanente­s Glück sei so, wie wenn der Himmel 365 Tage im Jahr nur azurblau wäre. Die größten Geister seien melancholi­sch gewesen, sagte Bucher und nannte als Beispiele Goethe, Beethoven und Bismarck, der von sich gesagt habe, er sei vielleicht 24 Stunden in seinem Leben ungetrübt glücklich gewesen. Oft werde Melancholi­e als Depression verkannt, sagte Bucher. Tatsächlic­h aber habe Melancholi­e eine schöpferis­che Kraft. Melancholi­sche Menschen erkennen die Vergänglic­hkeit, „das vertieft das Leben“.

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Jordi Savall

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