Arzt soll 95 Buben missbraucht haben
19 Jahre lang soll sich ein Mediziner in seiner Ordination im Salzkammergut an Pubertierenden vergangen haben. Warum haben die Opfer so lange geschwiegen? Und wie merkt ein Patient, wann eine Grenze überschritten wird?
Seit Ende Jänner sitzt ein Facharzt aus dem Salzkammergut im Landesgericht Wels wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses in U-Haft. Seit knapp einem halben Jahr wertet die Staatsanwaltschaft Wels dessen Patientenakten aus.
„Es kommen laufend neue Opfer hinzu. Unser Letztstand sind 95“, sagt Behördensprecher Christoph Weber. An allen Opfern, durchwegs Buben unter 14 Jahren im pubertierenden Alter, seien in der Ordination des Mediziners in einem Ort am Traunsee urologische Untersuchungen vorgenommen worden. Der Tatzeitraum liegt demnach zwischen dem Jahr 2000 und Anfang 2019. Der Verdächtige soll mittlerweile sexuellen Missbrauch gestanden haben, er bestreite aber schweren sexuellen Missbrauch, betont Staatsanwalt Weber. Der Mediziner sei einem möglichen Berufsverbot zuvorgekommen und habe sich selbst aus der Ärzteliste streichen lassen, bestätigt Peter Niedermoser, Präsident der Ärztekammer Oberösterreich. Er spricht von einem „schrecklichen und traurigen Fall“. Das Wichtigste im Verhältnis Arzt und Patient sei das Vertrauen, dieses sei „erschlichen und missbraucht“worden. Wie man in Zukunft Fälle dieser Art verhindern kann? „Jugendliche in der Pubertät sind besonders verletzlich, unsicher und haben ein starkes Schamgefühl. Es geht um eine wertschätzende Erziehung und Aufklärung, was in Ordnung ist und was nicht“, erklärt Niedermoser. Nachsatz: „Man muss darüber reden.“Den Kindern müsste in der Schule durch Gesundheitserziehung verdeutlicht werden, welche Untersuchung normal ist und wo eine Grenze überschritten wird. Neben Lehrern und Eltern könnten auch Schulärzte dabei eine wichtige Rolle spielen. Theoretisch gibt es viele Anlaufstellen und Beratungseinrichtungen, an die sich Opfer wenden können: Familienberatungsstellen, Schulsozialarbeiter, Vertrauenslehrer, die Kinder- und Jugendanwaltschaft, den Weißen Ring, das Pflegschaftsgericht – und zuallererst natürlich die Eltern.
„Wichtig ist, dass sich ein Kind von den Eltern ernst genommen fühlt“, sagt Astrid Egger von der Kinder- und Jugendanwaltschaft Oberösterreich. Man sollte Hinweisen nachgehen und nicht „blind den Göttern in Weiß vertrauen“. „Wenn eine Behandlung komisch wirkt, kann man auch eine zweite Meinung von einem anderen Arzt einholen und schauen, ob sich die beiden Behandlungen unterscheiden“, so Egger.
Der oberösterreichische Patientenanwalt Michael Wall ist nur für Beschwerden von Spitalspatienten zuständig, nicht für niedergelassene Ärzte. Er hält die Schwelle für sehr hoch, dass ein Opfer im Kindesalter Kontakt zu einer offiziellen Stelle sucht. „Am wichtigsten sind Bezugspersonen, die Signale bei Kindern möglichst aufmerksam beobachten.“Stille Hilfeschreie seien plötzlicher Leistungsabfall in der Schule, Aggression, Rückzug, Albträume, sexualisierte Sprache, Depressionen oder absichtliche Selbst verletzungen. Dem Patientenanwalt würden selten sexuelle Übergriffe im Spitalsbereich gemeldet.
Stille Hilfeschreie des Kindes ernst nehmen