Die USA haben ein Drogenproblem
5,7 Millionen Opiumpillen für eine Apotheke in einer 380-Seelen-Gemeinde? Ein neuer Bericht über die Drogenkrise in den USA zeigt: Profit stand über Menschenleben.
Ein Mitarbeiter der Apothekenkette Walgreen schlug Alarm, als er die Bestellung einer Filiale in Port Richey in Florida sah. Wieso benötigt eine Gemeinde mit 2831 Einwohnern 3271 Packungen Oxycodon im Monat?
Die Frage schien niemanden in seinem Unternehmen zu interessieren. Im darauffolgenden Monat verschickte Walgreen eine noch größere Bestellung an dieselbe Adresse.
Dabei wäre es ein Leichtes gewesen herauszufinden, warum die Filiale in Port Richey derartige Mengen des Opiats bestellte. Auf ihrem Parkplatz standen Fahrzeuge mit Nummernschildern aus allen Teilen der USA. Hinweisschilder machten die Kunden darauf aufmerksam, dass bar zu bezahlen ist. Sicherheitspersonal sorgte für Ordnung.
Die Walgreen-Apotheke war Teil eines Räderwerks, das für eine verheerende Drogenkrise in den USA verantwortlich ist. Andere nationale Ketten wie Walmart, CVS und RiteAid machten genauso mit.
Dank einer Anfrage der Zeitungen „Washington Post“und „Charleston Gazette-Mail“aus West Virginia musste die Drogenbehörde DEA ihre Daten veröffentlichen. Sie erfasst in einem eigenen IT-System Herstellung, Verteilung und Verkauf kontrollierter Substanzen vom Hersteller bis zum Endkunden. Die Erkenntnisse sind erschütternd. Zwischen 2006 und 2012 versorgte die Pharmaindustrie den amerikanischen Markt mit insgesamt 76 Milliarden Tabletten, die Oxycodon und Hydrocodon enthielten. Das Patent für die als „Oxy“bekannten Pillen lag bei der Firma Purdue Pharma, die das Schmerzmittel bereits 1996 mit dem Versprechen einer nicht abhängig machenden Alternative zu Morphium auf dem Markt eingeführt hat. Thomas Spang berichtet für die SN aus den USA
Lange stand Purdue Pharma, die der Familie Sackler gehört, als Hauptverantwortlicher für die Opiumkrise am Pranger. Nun wurden neue Daten veröffentlicht. Und es wird klar: Der Pharmakonzern war in dem Berichtszeitraum nach Ablauf des Patents nicht einmal unter den drei größten Herstellern.
Die überwältigende Mehrheit der Tabletten wurde von Herstellern von Generika in Umlauf gebracht. Den Markt dominierten Firmen wie Actavis, heute Teil der israelischen Teva-Gruppe, Par Pharmaceutical, das in irischem Besitz steht, und Mallinckrodt. Sie stellten rund 88 Prozent der Medikamente her. Die Unternehmen sehen sich wie die großen Verteiler mit Klagen von rund 2000 Städten und Bezirken konfrontiert. Ein Musterprozess wird im Herbst feststellen, welche Verantwortung Hersteller und Vertriebsgesellschafen an der Krise haben.
Sie stellen sich auf den Standpunkt, nichts verkehrt gemacht zu haben. Die Verantwortung für die epidemische Verbreitung von „Oxy“liege bei den Ärzten, die das Medikament verschrieben hätten.
Experten weisen darauf hin, dass die gesetzlich bestimmte Selbstregulierung der Pharmaindustrie nicht geholfen habe. Die Branche habe Warnungen der staatlichen Aufsichtsbehörde DEA in den Wind geschlagen.
Die Firma Miami-Luken etwa verkaufte rund 6,4 Millionen Opiumtabletten an eine einzige Apotheke in dem 3000-Seelen-Nest Williamson in West Virginia. An die Apotheke des 380 Einwohner zählenden Ortes Kermit schickte das Unternehmen 5,7 Millionen Opiumpillen.
Für Jim Geldhof, der 43 Jahre bei der Aufsichtsbehörde DEA gearbeitet hat, bestätigen die nun veröffentlichten Daten, was Eingeweihte schon vorher wussten: „Die haben alle zusammengearbeitet. Es ging nur um den Profit.“
Die Industrie argumentiert vor Gericht, sie habe ein zugelassenes Präparat verkauft und über die nun bekannt gewordenen Informationen nicht verfügt. Dagegen sprechen allerdings Beispiele wie die aus West Virginia und Florida, die zeigen, dass interne Kontrollen nicht vorhanden waren, obwohl das Gesetz diese vorschreibt.
Teva beispielsweise meldete von insgesamt 600.000 Bestellungen zwischen 2013 und 2016 genau sechs als verdächtig. Mallinckrodt bezahlte die nationalen Verkaufsmanager von „Oxy“auf Kommissionsbasis und machte sie dann auch gleich für die Selbstkontrolle zuständig.
Die Daten zeigen noch etwas anderes: Dort, wo die Industrie die meisten Tabletten in Umlauf gebracht hat, sind auch die Opferzahlen am größten. Dazu zählen vor allem die Gebirgsregion der Appalachen an der Ostküste und die alten Industriegebiete im Rostgürtel Amerikas. In einem Regierungsbezirk von Ohio starben derart viele Menschen an einer Überdosis von Oxycodon, dass mobile Leichenhallen eingesetzt wurden, um die Zahl der Toten zu bewältigen.
Insgesamt hat die Opiumkrise in den USA bereits 200.000 Menschen das Leben gekostet. Ein Ende ist nicht in Sicht.