Das Unglück der Glückwunschkarten
Über die bittere Erkenntnis, dass einem Schreiberling auch nicht immer einfällt, was er schreiben könnte.
Kürzlich bei einer Hochzeit hatte die Schwester des Bräutigams eine sehr gute, ja ganz und gar romantische Idee. Das Brautpaar soll in seinem ersten Ehejahr jede Woche eine Postkarte bekommen. Dafür wurden 52 Postkarten vorbereitet, jede für eine bestimmte Kalenderwoche, und an einer Wand zur Abholung aufgehängt. Fein säuberlich ist auf jeder dieser Karten schon die Adresse des Paares notiert – man müsse also nur mehr ein paar Zeilen dichten. Eh nur. Nun heirateten da zwei, die mit Literatur was anfangen können. Die mögen gut ausgedachte Wörter, vielleicht gar selbst gedichtete Gedichte. Das erhöht den Druck. Ich schreibe ungern solche Karten. Ich finde es schön, welche zu bekommen (eh viel zu selten). Das Schreiben von Karten oder Briefen ist eine schöne, aber sterbende Tradition. An ihrer statt schwappt nun die Bilderflut, die manche vom Urlaub (und sonst auch) per WhatsApp schicken. WhatsApp lässt sich aber nicht am Kühlschrank festmagnetisieren. Postkarten, die dort für einige Zeit hängen, wecken dann bei jedem Imbiss das Fernweh und Fragen wie: „Warum kann das Wurstbrot jetzt nicht eine Falafel in Jerusalem sein?“Das ist das Schöne an „Schöne Grüße aus Israel wünschen ...“. Selber schreiben, das finde ich anstrengend. Darum bin ich auf Reisen froh, dass Lolinger schreiben und lesen kann und sie diese Fähigkeit nicht nur für Untertitel beim Schauen irgendeiner Netflix-Serie nutzt. Sie schreibt gerne Postkarten, wenn man sie nur oft genug daran erinnert. Sie sagt „zwingen“. Da übertreibt sie. Und auf der Hochzeit findet Lolinger die Idee, so eine Karte zu schreiben, jetzt sogar real nice. Das tun die Freunde auch, die mit uns dort sind. Sie hatten außerdem auch noch eine leere Karte für das gemeinsame Geschenk dabei. Auf die solle ich doch noch „schnell ein paar Zeilen schreiben“. „Du kannst das doch“, sagt der Walter. Ich kann es nicht, sage ich. „Aber du schreibst doch sonst auch“, sagt er. Stimmt. Aber ich schreibe nur mit Deadline und bekomme dafür Geld und muss oft lange darüber nachdenken, was ich schreiben könnte. Oft fällt mir trotzdem nichts ein. Dann hilft die Erfahrung und die Erinnerung daran, dass die meisten Sachen, die man schon einmal schreiben hätte können, dann doch nicht geschrieben werden. Aus diesem Pool des Ungeschriebenen schöpfe ich, wenn mir spontan wieder einmal nichts einfällt. Außerdem würde, wenn mir einmal gar nichts mehr einfällt, etwa dieser Platz in der Zeitung trotzdem nicht weiß bleiben. Bei einer Glückwunschkarte oder einer Postkarte schaut das anders aus. Eine weiße Glückwunschkarte schaut nach gar nichts aus. Also schreibe ich: „Habt es gut miteinander“. Mehr ist mir nicht eingefallen. Die anderen sind froh und erleichtert, und einer holte mir dann sogar einen Gin Tonic von der Bar. Neben der Bar an der Wand mit den Postkarten, die in den kommenden Monaten das Brautpaar in schönen Worten an ihre Freunde und das Fest und ihre Zweisamkeit erinnern sollen, stehe ich dann und bewundere jene, die wahllos zugreifen. Ich wähle dann die Karte für die dritte Dezemberwoche. Das ist kurz vor Weihnachten. Das ist eine Zeit, in der ließe sich zur Not auch völlige Einfallslosigkeit durch ein paar treffende Stillste-Zeit-Phrasen recht unauffällig kaschieren. WWW.SN.AT/FLIEHER