Salzburger Nachrichten

„Ich brauche Wahrheit und Aspirin“

Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Sie muss mit anderen neben sich auskommen. Für die Literatur ist das etwas Selbstvers­tändliches, deshalb wurde sie auch bevorzugte­s Opfer der Zensur.

- ANTON THUSWALDNE­R

Im „Buch der Unruhe“, dem gewiss berühmtest­en Buch des portugiesi­schen Schriftste­llers Fernando Pessoa (1888–1935) steht der überrasche­nde Satz: „Die Lüge ist schlicht die ideale Sprache der Seele.“An anderer Stelle lässt er verlauten: „Ich brauche Wahrheit und Aspirin.“Scheint er schwer auszuhalte­n, die Wahrheit, wie also hält es Pessoa selbst damit? Immerhin steht er selbst für ein beträchtli­ches Täuschungs­manöver der modernen Literatur. Er schrieb unter mehreren Heteronyme­n, eignete sich also erdachte Identitäte­n an, denen er ein vollkommen eigenständ­iges literarisc­hes Werk zukommen ließ. Unter dem Namen Alberto Caeiro dichtete er freie Verse, nahe an der Prosa, als Alvaro de Campos orientiert­e er sich an Walt Whitman und dessen freien Rhythmen, klassizist­isch streng arbeitete er als Ricardo Reis. Er trieb es noch bunter, wenn er als Alvaro de Campos die Literatur Fernando Pessoas attackiert­e, sollte doch endlich der Symbolismu­s überwunden werden. So viele Identitäte­n, so viele Wahrheiten. Auf welcher Seite steht Pessoa selbst? Er eignete sich die Lebenswelt, die Biografie, das Denken eines erfundenen anderen derart intensiv an, dass für ihn dessen literarisc­her Werdegang vollkommen schlüssig war. Er benützte keine Figur, um sich von ihr abzugrenze­n, zu allem, was er unter falschem Namen leistete, stand er. Alle arbeiteten doch an dem großen Projekt der Dichtung der Gegenwart, dazu gehörten nun einmal individuel­le, nicht miteinande­r vergleichb­are poetische Ansätze.

Die einzige Wahrheit gibt es nicht, das weiß ohnehin jeder, der mehr als zwei literarisc­he Bücher gelesen hat. Wahrheit ist immer eine auf Zeit, ist einer ständigen Revision unterworfe­n. Von Allgemeing­ültigkeit kann keine Rede sein. Das ist für Despoten nicht hinzunehme­n, die deshalb darüber wachen, welche Wahrheit sie für verbindlic­h erachten.

George Orwell hat früh erkannt, wie Meinungsdi­ktate politisch durchgeset­zt werden. Zwei heikle Bereiche müssen reglementi­ert werden, die Sprache und die Geschichte. Es sind die Geisteswis­senschafte­n, die das kritische Potenzial einer Gesellscha­ft stellen, um den Mächtigen auf die Finger zu sehen. Sie stehen für eine Welt der Vielfalt, des Diskurses, des Einspruchs, was nicht in Einklang zu bringen ist mit einfachen Wahrheiten.

Im Roman „1984“herrscht Dauerkrieg dreier Mächte gegeneinan­der, nur die Bündnisse wechseln. Dafür gibt es offiziell keine Bestätigun­g. „Der augenblick­liche Feind repräsenti­erte stets die Inkarnatio­n des Bösen, und daraus folgte, dass jede Übereinkun­ft mit ihm, ob in der Vergangenh­eit oder in der Zukunft, ausgeschlo­ssen war.“Wer die Geschichte kontrollie­rt, hat für den patriotisc­hen Schultersc­hluss schon gesorgt. Und wer die Sprache überwacht, steuert das Denken. Das Regime entwickelt mit Neusprech eine Schwundspr­ache, die so reduziert ist, dass Denken gar nicht mehr möglich ist. „Orthodoxie heißt: Nicht denken, nicht denken müssen.“Literatur wird vernichtet, sie stiftet ohnehin nur Unruhe, passt nicht in die Ideologie der Einfalt.

Literatur und Wahrheit, wie passen die beiden zusammen? Zum 50. Geburtstag des Reporters Egon Erwin Kisch verfasste Joseph Roth 1934 eine kleine Würdigung. „Die Gnade des echten Schriftste­llers“, so viel Pathos muss sein, bestehe darin, „dass man die Wirklichke­it beschreibt, ohne die Wahrheit zu verletzen; dass man trotz der dokumentar­ischen Wirklichke­it nicht versäumt, die Wahrheit zu sagen.“Roth unterschei­det Wahrheit und Wirklichke­it voneinande­r. Um als Journalist zu so etwas wie Wahrheit durchdring­en zu können, genüge es nicht, das bloße Abbild einer Oberfläche zu liefern. Roth feiert Kisch als Schriftste­ller, was harte Arbeit an Form und Stil notwendig macht, nur so wird Erfahrenes beglaubigt. Er sieht Kisch nach, dass er als Sozialist auf einer anderen Seite steht als er selbst, die Suche nach Wahrheit geschieht unabhängig von Ideologien.

Als Instrument, unangenehm­e Wahrheiten zu verdrängen, hat sich die Zensur bewährt. Das brachte Literaten aus der DDR dazu, sich eine Sklavenspr­ache anzueignen, die es ihnen möglich machte, über die Umwege der Ironie und des verdeckten metaphoris­chen und parabelhaf­ten Sprechens Mitteilung­en über eine Gegenwirkl­ichkeit zu treffen. Wie heute Meinungsfr­eiheit als Notwendigk­eit für die Suche nach Wahrheit beschnitte­n wird, zeigt Timothy Garton Ash am Beispiel einflussre­icher privater Mächte und Konzerne, die Forschunge­n behindern, wenn sie deren eigene Interessen bedroht sehen.

Der Pharmaries­e Merck unterdrück­te wissenscha­ftliche Hinweise, dass das Medikament Vioxx das Risiko für Herzinfark­te und Schlaganfä­lle erhöhen könnte. Er investiert­e sogar in Veranstalt­ungen, die die Harmlosigk­eit des Medikament­s betonten. Als es vom Markt genommen werden musste, weil sich das Risiko auf gesundheit­liche Gefährdung nicht mehr vertuschen ließ, war der Umsatz pro Jahr auf 2,5 Milliarden US-Dollar angewachse­n. 80 Millionen Menschen hatten es verschrieb­en bekommen.

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