„Ich brauche Wahrheit und Aspirin“
Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Sie muss mit anderen neben sich auskommen. Für die Literatur ist das etwas Selbstverständliches, deshalb wurde sie auch bevorzugtes Opfer der Zensur.
Im „Buch der Unruhe“, dem gewiss berühmtesten Buch des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888–1935) steht der überraschende Satz: „Die Lüge ist schlicht die ideale Sprache der Seele.“An anderer Stelle lässt er verlauten: „Ich brauche Wahrheit und Aspirin.“Scheint er schwer auszuhalten, die Wahrheit, wie also hält es Pessoa selbst damit? Immerhin steht er selbst für ein beträchtliches Täuschungsmanöver der modernen Literatur. Er schrieb unter mehreren Heteronymen, eignete sich also erdachte Identitäten an, denen er ein vollkommen eigenständiges literarisches Werk zukommen ließ. Unter dem Namen Alberto Caeiro dichtete er freie Verse, nahe an der Prosa, als Alvaro de Campos orientierte er sich an Walt Whitman und dessen freien Rhythmen, klassizistisch streng arbeitete er als Ricardo Reis. Er trieb es noch bunter, wenn er als Alvaro de Campos die Literatur Fernando Pessoas attackierte, sollte doch endlich der Symbolismus überwunden werden. So viele Identitäten, so viele Wahrheiten. Auf welcher Seite steht Pessoa selbst? Er eignete sich die Lebenswelt, die Biografie, das Denken eines erfundenen anderen derart intensiv an, dass für ihn dessen literarischer Werdegang vollkommen schlüssig war. Er benützte keine Figur, um sich von ihr abzugrenzen, zu allem, was er unter falschem Namen leistete, stand er. Alle arbeiteten doch an dem großen Projekt der Dichtung der Gegenwart, dazu gehörten nun einmal individuelle, nicht miteinander vergleichbare poetische Ansätze.
Die einzige Wahrheit gibt es nicht, das weiß ohnehin jeder, der mehr als zwei literarische Bücher gelesen hat. Wahrheit ist immer eine auf Zeit, ist einer ständigen Revision unterworfen. Von Allgemeingültigkeit kann keine Rede sein. Das ist für Despoten nicht hinzunehmen, die deshalb darüber wachen, welche Wahrheit sie für verbindlich erachten.
George Orwell hat früh erkannt, wie Meinungsdiktate politisch durchgesetzt werden. Zwei heikle Bereiche müssen reglementiert werden, die Sprache und die Geschichte. Es sind die Geisteswissenschaften, die das kritische Potenzial einer Gesellschaft stellen, um den Mächtigen auf die Finger zu sehen. Sie stehen für eine Welt der Vielfalt, des Diskurses, des Einspruchs, was nicht in Einklang zu bringen ist mit einfachen Wahrheiten.
Im Roman „1984“herrscht Dauerkrieg dreier Mächte gegeneinander, nur die Bündnisse wechseln. Dafür gibt es offiziell keine Bestätigung. „Der augenblickliche Feind repräsentierte stets die Inkarnation des Bösen, und daraus folgte, dass jede Übereinkunft mit ihm, ob in der Vergangenheit oder in der Zukunft, ausgeschlossen war.“Wer die Geschichte kontrolliert, hat für den patriotischen Schulterschluss schon gesorgt. Und wer die Sprache überwacht, steuert das Denken. Das Regime entwickelt mit Neusprech eine Schwundsprache, die so reduziert ist, dass Denken gar nicht mehr möglich ist. „Orthodoxie heißt: Nicht denken, nicht denken müssen.“Literatur wird vernichtet, sie stiftet ohnehin nur Unruhe, passt nicht in die Ideologie der Einfalt.
Literatur und Wahrheit, wie passen die beiden zusammen? Zum 50. Geburtstag des Reporters Egon Erwin Kisch verfasste Joseph Roth 1934 eine kleine Würdigung. „Die Gnade des echten Schriftstellers“, so viel Pathos muss sein, bestehe darin, „dass man die Wirklichkeit beschreibt, ohne die Wahrheit zu verletzen; dass man trotz der dokumentarischen Wirklichkeit nicht versäumt, die Wahrheit zu sagen.“Roth unterscheidet Wahrheit und Wirklichkeit voneinander. Um als Journalist zu so etwas wie Wahrheit durchdringen zu können, genüge es nicht, das bloße Abbild einer Oberfläche zu liefern. Roth feiert Kisch als Schriftsteller, was harte Arbeit an Form und Stil notwendig macht, nur so wird Erfahrenes beglaubigt. Er sieht Kisch nach, dass er als Sozialist auf einer anderen Seite steht als er selbst, die Suche nach Wahrheit geschieht unabhängig von Ideologien.
Als Instrument, unangenehme Wahrheiten zu verdrängen, hat sich die Zensur bewährt. Das brachte Literaten aus der DDR dazu, sich eine Sklavensprache anzueignen, die es ihnen möglich machte, über die Umwege der Ironie und des verdeckten metaphorischen und parabelhaften Sprechens Mitteilungen über eine Gegenwirklichkeit zu treffen. Wie heute Meinungsfreiheit als Notwendigkeit für die Suche nach Wahrheit beschnitten wird, zeigt Timothy Garton Ash am Beispiel einflussreicher privater Mächte und Konzerne, die Forschungen behindern, wenn sie deren eigene Interessen bedroht sehen.
Der Pharmariese Merck unterdrückte wissenschaftliche Hinweise, dass das Medikament Vioxx das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen könnte. Er investierte sogar in Veranstaltungen, die die Harmlosigkeit des Medikaments betonten. Als es vom Markt genommen werden musste, weil sich das Risiko auf gesundheitliche Gefährdung nicht mehr vertuschen ließ, war der Umsatz pro Jahr auf 2,5 Milliarden US-Dollar angewachsen. 80 Millionen Menschen hatten es verschrieben bekommen.