Zwischen Gott und „egal“
Traditionalisten und Fundamentalisten haben Zulauf. Auf der anderen Seite lässt die Religion immer mehr Menschen völlig kalt. Wo ist der Mittelweg zu finden? Eine Theorie sagt: Den Religionen fehlt es an Mystik.
DDer Islamwissenschafter Thomas Bauer sieht Religionen auf dem Holzweg, die auf Zentralismus, Dogmatismus und Fundamentalismus setzen. Im SN-Gespräch fordert er mehr Mut zu Mehrdeutigkeit und Vielfalt.
SN: Warum sind religiöse Fundamentalisten so erfolgreich?
Thomas Bauer: Eine Hauptursache ist das große Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Das hat den einen Grund darin, dass die Welt tatsächlich immer komplexer, unübersichtlicher wird. Andererseits wächst der Fundamentalismus auch aus sich heraus. Das sieht man in der Politik, wo der Populismus stärker wird, oder im Alltag: Man beleidigt einander auf unerhörte Weise oder pocht andererseits auf eine Political Correctness, die selbst wiederum auf Eindeutigkeit fixiert ist und nichts anderes zulässt. Früher gab es so etwas wie Höflichkeit, was ein großes Maß an Zweideutigkeit bedeutet hat.
SN: Sie beklagen in Ihrem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“, dass auch Religionen früher vielfältiger gewesen seien und nicht so sehr auf Eindeutigkeit fixiert wie derzeit.
Grundsätzlich verlangt jede Religion dem Menschen viel Ambiguitätstoleranz ab (Ertragen von Uneindeutigkeit und Vielfalt, Anm.). Das beginnt schon bei den heiligen Texten, in denen man vieles nicht versteht. Auch Dogmen sind weithin unverständlich. Und obendrauf muss man als religiöser Mensch akzeptieren, dass es etwas Transzendentes gibt, etwas jenseits dessen, was wir naturwissenschaftlich erklären können.
SN: Warum ist die Vielfalt, die Ambiguitätstoleranz, verloren gegangen?
Es ist ein historischer Trend, der in Europa vielleicht mit der Reformation beginnt. In der Spätaufklärung kam dann der Versuch dazu, alles exakt naturwissenschaftlich zu fassen. Dabei haben die Religionen viel Macht verloren. Daher gab und gibt es in der katholischen Kirche eine starke Tendenz zur Zentralisierung. Diese war in früheren Jahrhunderten viel schwächer und wird erst jüngst wieder infrage gestellt durch die Rede vom „synodalen Weg“.
Wir haben also von oben die Tendenz einer Vereinheitlichung und von unten eine starke fundamentalistische Strömung. Beide Phänomene verstärken einander unglücklicherweise gegenseitig.
SN: Sie wünschen sich eine offene, tolerante Religion. Das würde aber nach Ansicht der Traditionalisten und Fundamentalisten in die völlige Gleichgültigkeit führen. Man müsse wortwörtlich an den Koran glauben oder an die Dogmen. Das ist ganz sicher ein falscher Weg, weil er von oben diktiert, an Dinge zu glauben, die äußerst vieldeutig sind. Was bedeutet denn die Dreifaltigkeit Gottes? Da kann man nicht sagen, du musst an die Dreifaltigkeit glauben. Man kann über die Dreifaltigkeit nur meditieren, man kann sie zum Inhalt des Nachdenkens machen, um Assoziationen zu gewinnen und Sinne – in der Mehrzahl! – darin zu finden: mehrere Sinne, die Menschen unterschiedlich zugänglich sind.
Der Kern des Glaubens ist nicht, ihn wie Gesetzesvorlagen in einem Parlament anzunehmen oder abzulehnen, sondern sich damit auseinanderzusetzen: spirituell, künstlerisch, intellektuell, wobei man durchaus kontroverse Positionen einnehmen kann. Dieser spirituelle Kern des Glaubens darf nicht dadurch verloren gehen, dass man auf Eindeutigkeit drängt und alle diese Fixierungen für dann wahr halten müssen.
Ich habe das Nachdenken über Dreifaltigkeit nie als einengend empfunden, sondern es hat immer das Denken geöffnet.
SN: Muss Religion im Kern immer mystisch sein?
Das ist eine sehr wichtige Dimension, die im Laufe der Geschichte weithin verloren gegangen ist. Sie wurde zuerst bei den Protestanten und zunehmend auch bei den Katholiken in den Hintergrund gedrängt. Und heute tobt im Islam die Auseinandersetzung über die Mystik, bis zu Terroranschlägen gegen Moscheen, die den Sufismus pflegen, die mystische Strömung des Islams.
SN: Wie kann eine Religion den Mittelweg zwischen Gleichgültigkeit und Fundamentalismus finden?
Ich halte das gesellschaftspolitische Engagement der Kirchen für sehr gut, weil sie oft die richtigen Kontroversen aufs Tapet bringen. Ich würde mir aber wünschen, dass die Kirchen noch stärker über ihr Glaubensgeheimnis und ihre mystische Dimension sprechen. Christentum hört nicht bei der Brüderlichkeit allein auf. Für sehr wichtig halte ich auch die Pflege von Kunst und Musik. Ästhetik und Ritual sind in der Liturgie zugunsten des Wortes in den Hintergrund gedrängt worden. Es ist gut, wenn das Ich gestärkt wird, aber Liturgie muss über das Ich hinausführen. Ein vermeintlich jugendgerechtes Anbiedern an die Popkultur führt die Menschen nur in die Welt zurück, aus der sie kommen. Liturgie muss darüber hinausweisen. Der Versuch, Brücken in den Alltag zu schlagen, endet dann, wenn man in der Liturgie nichts mehr bekommt, was man nicht ohnehin im Alltag schon hat. Wo Religion und Politik sich besonders eng verbünden, gibt es immer Wechselwirkungen zwischen beiden Systemen. Eine interessante Beobachtung ist dazu, dass das Thema Abtreibung in den USA wieder verschärft auftritt. Es galt zuerst als katholisches Thema und wurde erst spät von den evangelikalen Christen aufgegriffen. Nachdem es sich aber als politisch wirksam erwiesen hat, haben sich evangelikale Kirchen besonders radikal und kompromisslos auf dieses Thema gestürzt.
SN: Wie würden Sie einem jungen Menschen gegenüber begründen, dass es sinnvoll ist, religiös zu sein?
Ich glaube, dass Religion evolutionär sehr tief im Menschen verankert ist. Und sie hat eine starke gemeinschaftsbildende Funktion. Daher gelingt es erst seit Kurzem Menschen in größerer Zahl, ganz ohne Religion auszukommen. Diese wenden sich dann vielfach anderen gemeinschaftsbildenden Angeboten zu – man denke an die Jugendweihe in den Bundesländern der Ex-DDR.
Die sinnloseste Form, religiös zu sein, ist eine Individualreligion ohne Kontakt zu einer Gemeinschaft – dann lieber gleich eine agnostische Konsumgesellschaft. Daher sind der gemeinschaftliche und der spirituelle Aspekt von Religion viel wichtiger als die Frage nach der endgültigen Wahrheit.