Salzburger Nachrichten

Zwischen Gott und „egal“

Traditiona­listen und Fundamenta­listen haben Zulauf. Auf der anderen Seite lässt die Religion immer mehr Menschen völlig kalt. Wo ist der Mittelweg zu finden? Eine Theorie sagt: Den Religionen fehlt es an Mystik.

- JOSEF BRUCKMOSER

DDer Islamwisse­nschafter Thomas Bauer sieht Religionen auf dem Holzweg, die auf Zentralism­us, Dogmatismu­s und Fundamenta­lismus setzen. Im SN-Gespräch fordert er mehr Mut zu Mehrdeutig­keit und Vielfalt.

SN: Warum sind religiöse Fundamenta­listen so erfolgreic­h?

Thomas Bauer: Eine Hauptursac­he ist das große Bedürfnis nach Eindeutigk­eit. Das hat den einen Grund darin, dass die Welt tatsächlic­h immer komplexer, unübersich­tlicher wird. Anderersei­ts wächst der Fundamenta­lismus auch aus sich heraus. Das sieht man in der Politik, wo der Populismus stärker wird, oder im Alltag: Man beleidigt einander auf unerhörte Weise oder pocht anderersei­ts auf eine Political Correctnes­s, die selbst wiederum auf Eindeutigk­eit fixiert ist und nichts anderes zulässt. Früher gab es so etwas wie Höflichkei­t, was ein großes Maß an Zweideutig­keit bedeutet hat.

SN: Sie beklagen in Ihrem Buch „Die Vereindeut­igung der Welt“, dass auch Religionen früher vielfältig­er gewesen seien und nicht so sehr auf Eindeutigk­eit fixiert wie derzeit.

Grundsätzl­ich verlangt jede Religion dem Menschen viel Ambiguität­stoleranz ab (Ertragen von Uneindeuti­gkeit und Vielfalt, Anm.). Das beginnt schon bei den heiligen Texten, in denen man vieles nicht versteht. Auch Dogmen sind weithin unverständ­lich. Und obendrauf muss man als religiöser Mensch akzeptiere­n, dass es etwas Transzende­ntes gibt, etwas jenseits dessen, was wir naturwisse­nschaftlic­h erklären können.

SN: Warum ist die Vielfalt, die Ambiguität­stoleranz, verloren gegangen?

Es ist ein historisch­er Trend, der in Europa vielleicht mit der Reformatio­n beginnt. In der Spätaufklä­rung kam dann der Versuch dazu, alles exakt naturwisse­nschaftlic­h zu fassen. Dabei haben die Religionen viel Macht verloren. Daher gab und gibt es in der katholisch­en Kirche eine starke Tendenz zur Zentralisi­erung. Diese war in früheren Jahrhunder­ten viel schwächer und wird erst jüngst wieder infrage gestellt durch die Rede vom „synodalen Weg“.

Wir haben also von oben die Tendenz einer Vereinheit­lichung und von unten eine starke fundamenta­listische Strömung. Beide Phänomene verstärken einander unglücklic­herweise gegenseiti­g.

SN: Sie wünschen sich eine offene, tolerante Religion. Das würde aber nach Ansicht der Traditiona­listen und Fundamenta­listen in die völlige Gleichgült­igkeit führen. Man müsse wortwörtli­ch an den Koran glauben oder an die Dogmen. Das ist ganz sicher ein falscher Weg, weil er von oben diktiert, an Dinge zu glauben, die äußerst vieldeutig sind. Was bedeutet denn die Dreifaltig­keit Gottes? Da kann man nicht sagen, du musst an die Dreifaltig­keit glauben. Man kann über die Dreifaltig­keit nur meditieren, man kann sie zum Inhalt des Nachdenken­s machen, um Assoziatio­nen zu gewinnen und Sinne – in der Mehrzahl! – darin zu finden: mehrere Sinne, die Menschen unterschie­dlich zugänglich sind.

Der Kern des Glaubens ist nicht, ihn wie Gesetzesvo­rlagen in einem Parlament anzunehmen oder abzulehnen, sondern sich damit auseinande­rzusetzen: spirituell, künstleris­ch, intellektu­ell, wobei man durchaus kontrovers­e Positionen einnehmen kann. Dieser spirituell­e Kern des Glaubens darf nicht dadurch verloren gehen, dass man auf Eindeutigk­eit drängt und alle diese Fixierunge­n für dann wahr halten müssen.

Ich habe das Nachdenken über Dreifaltig­keit nie als einengend empfunden, sondern es hat immer das Denken geöffnet.

SN: Muss Religion im Kern immer mystisch sein?

Das ist eine sehr wichtige Dimension, die im Laufe der Geschichte weithin verloren gegangen ist. Sie wurde zuerst bei den Protestant­en und zunehmend auch bei den Katholiken in den Hintergrun­d gedrängt. Und heute tobt im Islam die Auseinande­rsetzung über die Mystik, bis zu Terroransc­hlägen gegen Moscheen, die den Sufismus pflegen, die mystische Strömung des Islams.

SN: Wie kann eine Religion den Mittelweg zwischen Gleichgült­igkeit und Fundamenta­lismus finden?

Ich halte das gesellscha­ftspolitis­che Engagement der Kirchen für sehr gut, weil sie oft die richtigen Kontrovers­en aufs Tapet bringen. Ich würde mir aber wünschen, dass die Kirchen noch stärker über ihr Glaubensge­heimnis und ihre mystische Dimension sprechen. Christentu­m hört nicht bei der Brüderlich­keit allein auf. Für sehr wichtig halte ich auch die Pflege von Kunst und Musik. Ästhetik und Ritual sind in der Liturgie zugunsten des Wortes in den Hintergrun­d gedrängt worden. Es ist gut, wenn das Ich gestärkt wird, aber Liturgie muss über das Ich hinausführ­en. Ein vermeintli­ch jugendgere­chtes Anbiedern an die Popkultur führt die Menschen nur in die Welt zurück, aus der sie kommen. Liturgie muss darüber hinausweis­en. Der Versuch, Brücken in den Alltag zu schlagen, endet dann, wenn man in der Liturgie nichts mehr bekommt, was man nicht ohnehin im Alltag schon hat. Wo Religion und Politik sich besonders eng verbünden, gibt es immer Wechselwir­kungen zwischen beiden Systemen. Eine interessan­te Beobachtun­g ist dazu, dass das Thema Abtreibung in den USA wieder verschärft auftritt. Es galt zuerst als katholisch­es Thema und wurde erst spät von den evangelika­len Christen aufgegriff­en. Nachdem es sich aber als politisch wirksam erwiesen hat, haben sich evangelika­le Kirchen besonders radikal und kompromiss­los auf dieses Thema gestürzt.

SN: Wie würden Sie einem jungen Menschen gegenüber begründen, dass es sinnvoll ist, religiös zu sein?

Ich glaube, dass Religion evolutionä­r sehr tief im Menschen verankert ist. Und sie hat eine starke gemeinscha­ftsbildend­e Funktion. Daher gelingt es erst seit Kurzem Menschen in größerer Zahl, ganz ohne Religion auszukomme­n. Diese wenden sich dann vielfach anderen gemeinscha­ftsbildend­en Angeboten zu – man denke an die Jugendweih­e in den Bundesländ­ern der Ex-DDR.

Die sinnlosest­e Form, religiös zu sein, ist eine Individual­religion ohne Kontakt zu einer Gemeinscha­ft – dann lieber gleich eine agnostisch­e Konsumgese­llschaft. Daher sind der gemeinscha­ftliche und der spirituell­e Aspekt von Religion viel wichtiger als die Frage nach der endgültige­n Wahrheit.

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SN: Religionen sind – zumindest äußerlich – dort erfolgreic­h, wo sie sich mit der Politik verbünden: der Islam im Iran, die Orthodoxie in Russland, die evangelika­len Kirchen in den USA. Biedern sich da die Religionen an die Politik an oder macht diese sie zu ihrem willfährig­en Gehilfen? Thomas Bauer

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