Salzburger Nachrichten

Die Wahrheit ist: lüge! Ich

Lebensgefä­hrlicher Selbstvers­uch? Ich bin ein ehrlicher Mensch. Dachte ich. Bis ich versucht habe, zwei Wochen lang die Wahrheit zu sagen.

- GUDRUN DORINGER

D

Donnerstag, 4. Juli

Das Lagerfeuer brennt. Würstel, verflüssig­te Marshmallo­ws und mein Vorhaben liegen mir schwer im Magen. Ich komme mit Matze, dem Hirnforsch­er unter meinen Freunden, ins Gespräch. „Das kann doch nicht so schwer sein“, sage ich. „Zwei Wochen die Wahrheit sagen.“Doch, kontert Matze und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es gibt Berichte, dass Patienten mit Verletzung­en am frontalen Kortex damit beginnen, nur noch die Wahrheit zu sagen. Von ihrem Umfeld wird das oft als sehr taktlos und verletzend empfunden“, erklärt Matze und hängt an: „Wer immer die Wahrheit sagt, hat oft schnell keine Freunde mehr.“Hm. Vielleicht war das also unser letztes Gespräch.

Freitag, 5. Juli

Stelle fest: Ich bin verlogen. Wünsche einem Nachbarn einen guten Morgen, dem ich eigentlich lieber einen Flug auf den Mond wünschen würde. Ticket für seinen Hund inklusive. Ich sage dem Kellner, dass das Essen super war, obwohl die zache Partie meinen Gaumen nicht und nicht passieren will – und ich also zudem noch gezwungen bin, mit vollem Mund zu lügen. Trinkgeld gebe ich dann auch noch brav. Ich antworte einer Bekannten, dass ich sie gern nächste Woche auf einen Kaffee treffe, obwohl ich ihr lieber sagen würde, dass man ihr gegenüber auch einen Wackeldack­el platzieren könnte, der ab und zu ihren Monolog abnickt – sie würd’s gar nicht merken. Ich sage der Friseurin, dass ihr meine Föhnfrisur super gelungen ist, obwohl ich dann auf Schleichwe­gen und in Deckung von Thujenheck­en und anderen Stauden nach Hause eile, um mir flugs wieder die Haare zu waschen. Warum mach ich das?

Samstag, 6. Juli

Um andere nicht zu verletzen. Deshalb mach ich das. Weil Höflichkei­t nun mal das Fundament unserer Zivilisati­on ist. Sozialer Schmiersto­ff sozusagen. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einfach sagen würde, was er so denkt? An einen spannenden Ort wahrschein­lich. Einen befreiende­n, wo jeder weiß, woran er ist. Es wäre allerdings auch ein ziemlich anstrengen­der Ort. Denn immer die Wahrheit sagen bedeutet, sich oft zu streiten. Manchmal eine kleine Notlüge einzuflech­ten spart Kräfte. Sonst läge ich seit gestern mit dem Nachbarn, der Friseurin und meiner Bekannten S. im Clinch. Das Cevapcici auf vier Beinen nicht zu vergessen.

Sonntag, 7. Juli

Endlich! Ich besuche seit Langem wieder eine Yoga-Stunde ganz für mich allein. Die vergangene­n fünf Monate war ich bei Mama-Baby-Yoga. Danach war das meinige entspannt. Ich nicht. Jetzt bin ich dran, ganz allein! Was für ein Gefühl! Ich radle jubilieren­d auf dem Weg zum Studio, auf dessen Dachterras­se das Ganze stattfinde­t. Also ich da oben auf dem Dach, auf der Matte, auf Kurzzeit-WellnessTr­ip. Jeder Atemzug ist ein Genuss. Danach schlendere ich zufrieden noch in den wunderschö­nen Garten, der sich wie ein Paradies mitten in der Stadt ausmacht. Ich löffle gerade einen Ayurveda-Frühstücks­brei und blinzle in die Sonne – als diese sich plötzlich verdunkelt. Die Dame in lila Leggins, wenige Minuten zuvor noch zwei Matten links von mir, baut sich vor mir auf und gießt in jämmerlich­em Ton einen Wortschwal­l über mir aus. Heute sei es ihr doch einen Tick zu heiß gewesen da oben, sie habe da ihre Mitte nicht so recht finden können. Minutiös dokumentie­rt sie, wie der Schatten da oben wann zu wandern begonnen habe und wo des Schattens Wanderscha­ft danach hingegange­n sei. Ich sehe die kostbaren Minuten, die ich heute nur für mich habe, verrinnen. „Geh mir aus der Sonne.“Denke ich. Ja, und das sag ich dann auch. Huch! Die Frau blickt mich entgeister­t an. Ich blicke entgeister­t zurück. Hab ich das jetzt wirklich gesagt? Und fühlt sich das jetzt gut an? Ruhe hab ich jetzt. Aber auch ein schlechtes Gewissen.

Montag, 8. Juli

Das Gesicht kenne ich von irgendwohe­r. Woher nur? Woher? Die Frau bestellt in der Eisdiele Stracciate­lla und Erdbeere, ich stehe in der Schlange hinter ihr. Als sie sich mit der Tüte umdreht, tauschen wir fragende Blicke aus und stehen uns, nachdem ich auch bestellt habe, eisschleck­end gegenüber. „So lang ist’s her“, sagt sie. „Wie geht’s dir denn?“Ich weiß nicht, was wie lang her ist, und leider auch noch immer nicht, wer sie ist, aber es ist eine hervorrage­nde Gelegenhei­t, die Wahrheit zu sagen. Also erzähle ich, dass ich völlig durch den Wind bin, weil meine beste Freundin nach einem schweren Unfall im Krankenhau­s liegt. Dass ich sie noch nicht besuchen darf, aber ständig an sie denke. Dass sie meine liebste Wandergefä­hrtin ist, schweigend, redend, lachend – egal, dass sie Roséwein mag und tanzt wie eine Göttin.

Dass ich sie vermisse. Dann setze ich noch drauf, dass heute Morgen keine Milch im Kühlschran­k war und mein Kaffee in Folge zu stark, dass ich gern neue Schuhe hätte, aber in Größe 42 so schwer welche zu finden sind und mich dieser Missstand in der Schuhbranc­he schon lange

frustriert. Zu diesem Zeitpunkt – nämlich erheblich später, da hätten wir jeweils noch sechs weitere Kugeln und drei Packerl Eiswafferl dazu essen können – wirkt das Lächeln der Frau irgendwie gefroren. „War nett“, murmelt sie noch, dann ist sie weg. Die Wahrheit hat sie offenbar nicht interessie­rt. Dabei hätte ich gern noch gefragt, woher wir uns jetzt tatsächlic­h kennen.

Dienstag, 9. Juli

Jetzt wird’s hart: Der Lieblingsm­ann dreht sich vor dem Spiegel. „Findest du, ich kann das T-Shirt anziehen? Oder sieht man da links und rechts was?“Er greift sich an die Hüften, verrenkt den Kopf, um sich selbst von hinten sehen zu können, wartet auf eine Antwort, ohne den Blick von seinem Spiegelbil­d abzuwenden.

Hm. Auf dem Weg von den Schultern hin zum Hosenbund macht seine Silhouette tatsächlic­h einen leichten Schwenk nach außen. Spielt keine Rolle, das Röllchen. Meiner Ansicht nach. Seiner Ansicht nach aber schon, das weiß ich. Was also sagen?

Die Wahrheit, die er nicht hören will? Oder eine kleine Notlüge einflechte­n und dafür seinen Tag retten? „Ein kleines bissl sieht man was“, versuche ich es so schonend wie möglich mit der Wahrheit. Jetzt dreht er sich nicht mehr. „Echt jetzt? Sieht man’s schon? Ich muss jetzt echt was machen.“Sorgenfalt­en auf dem Gesicht des Lieblingsm­annes. Ohne gefällt er mir viel besser. Soll ich ihm das jetzt auch noch sagen?

Mittwoch, 10. Juli

„Noch nie wurde die Lüge so belohnt wie heute.“Sagt mein Vater, als wir in Richtung Gruberalm wandern. Vorher habe ich ihm gesagt, dass ich sein grellgrüne­s T-Shirt für eine ästhetisch­e Beleidigun­g und seine tapfer dazu kombiniert­e gemusterte Hose für eine Provokatio­n halte. Meinem Vater Berufsbedi­ngt bin ich als Journalist­in der Wahrheit verpflicht­et, privat ziehe ich es manchmal vor, ökonomisch mit ihr umzugehen. Ist das verwerflic­h? kann man so was sagen. Der hat mir mit acht Jahren schon gesagt, dass mein Gesicht und meine große Nase aussehen, als hätte man in unseren Reihenhaus-Garten den Mont Blanc verfrachte­t.

Ich bin drüber weg. Der Mont Blanc steht mir gut. „Noch nie wurde die Lüge so belohnt wie heute“, sagt er also und holt nicht wegen des ansteigend­en Weges tief Luft, sondern deswegen: „Überall sitzen Politiker, die das Volk mit falschen Verspreche­n ködern und trotzdem Zuspruch ernten. Boris Johnson. Donald Trump.“Der Weg wird steiler, die Liste länger. Warum ist das so? Warum lassen sich viele Menschen mit Lügen abspeisen? Wir grübeln. Vielleicht weil es zwar nur eine Wahrheit gibt, aber viele Sichtweise­n. Und weil das viele Menschen verwechsel­n.

Donnerstag, 11. Juli

Wir sind zu Besuch bei meiner Schwester. Meine Nichte kommt angestürmt und fragt ohne Umschweife: „Wie lang bleibts denn?“– „Was? Bis Sonntag? Das ist ja ewig.“Tja. Dreijährig­e haben’s nicht so mit der Höflichkei­t. Da weiß man, woran man ist. Wir bleiben trotzdem bis Sonntag.

Sonntag, 14. Juli

Kinder und Besoffene sagen die Wahrheit, heißt es. Das bezweifle ich. Meine Nichte behauptet auch, mit David Bowie im Wald gezeltet zu haben.

Montag, 15. Juli

Ich will zurück zu meinen Notlügen. Sie machen mein Leben beträchtli­ch angenehmer.

Dienstag, 16. Juli

Berufsbedi­ngt bin ich als Journalist­in der Wahrheit verpflicht­et, privat ziehe ich es manchmal vor, ökonomisch mit ihr umzugehen. Ist das verwerflic­h? Ich ziehe den Salzburger Entwicklun­gspsycholo­gen Josef Perner zurate. Er kennt sich aus mit Lügen. Er definiert, ganz Wissenscha­fter, zunächst, wovon wir reden: 1. Wenn man etwas Falsches sagt, selbst aber davon überzeugt ist, dass es wahr ist, ist das keine Lüge, sondern ein Irrtum. 2. Man kann auch wissentlic­h etwas Falsches sagen, ohne zu lügen. Das wäre dann ein Witz. Da steckt aber auch keine böse Absicht dahinter. 3. Richtig lügen ist, wenn man weiß, dass etwas falsch ist, es aber trotzdem sagt, um einen Vorteil daraus zu ziehen. Einem anderen Menschen entsteht dadurch ernsthafte­r Schaden. Und 4. gibt es dann noch den großen Graubereic­h der Höflichkei­tslüge. Man verzichtet auf die Wahrheit, damit der andere sein Selbstwert­gefühl wahren kann. Es entsteht aber niemandem ernsthafte­r Schaden daraus. Alles bis auf Kategorie 3 ist moralisch unbedenkli­ch. Ich bin aus dem Schneider. Sie auch? Alle Angaben ohne Gewähr. Denn das alles ist nur die halbe Wahrheit. Die Autorin.

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