Salzburger Nachrichten

Eine Stadt entschleun­igt sich

Tempo 30 in ganz Brüssel. Europas Hauptstadt will anders mobil werden.

- SYLVIA WÖRGETTER

EEuropas Hauptstadt ist wie viele Städte: Zu den Stoßzeiten geht nichts mehr, die Blechlawin­en auf den Hauptroute­n in, aus und durch Brüssel bewegen sich quälend langsam – und oft gar nicht mehr. Doch Brüssel will wieder mobil werden, und zwar rasch und radikal. Die Parole lautet: Vorrang für Fußgänger und Radfahrer, freie Bahn den Öffis, immer mehr Verbote für Autos. „Die Verkehrsbe­ruhigung des öffentlich­en Raumes“habe „Priorität“, heißt es in dem Regierungs­programm, auf das sich vor zehn Tagen sechs Parteien des rot-grün-liberalen Spektrums geeinigt haben. Die neue Regierung verspricht jungen und älteren Brüsselern Gratis-Fahrt mit allen öffentlich­en Verkehrsmi­tteln. Bereits ab kommendem Jahr dürfen demnach alle unter 25 und alle über 65 Jahren generell kostenlos mit Bus, Straßenbah­n und U-Bahn unterwegs sein. Innerhalb der nächsten fünf Jahre soll die Busflotte um 30 Prozent aufgestock­t und der lang gehegte Plan einer Verlängeru­ng der U-Bahn-Linie 3 nach Norden angegangen werden. Dagegen wird kaum jemand etwas haben. Mehr Konfliktst­off birgt da schon ein generelles Tempolimit. Ab 1. Jänner 2021 nämlich soll in der gesamten Region Brüssel – also in allen 19 Gemeinden, aus denen die Stadt besteht – Tempo 30 gelten. „Zone 30 wird die Regel“, verspricht die Regierung. Ausnehmen will sie nur wenige große Hauptverbi­ndungsrout­en durch die Stadt. Die Polizei soll zusätzlich­e Mittel für die

Kontrolle des Tempolimit­s erhalten, vor allem vor Schulen, Spielplätz­en, Parks und Fußgängerz­onen wird geblitzt werden.

Schon jetzt gilt Tempo 30 in etwa der Hälfte der Brüsseler Straßen und ist naturgemäß bei den Anrainern beliebt. Die Tageszeitu­ng „Le Soir“zitierte dieser Tage eine Umfrage, wonach 85 Prozent zufrieden mit den 30er-Zonen sind, vor allem weil sie ihnen mehr Sicherheit und weniger Lärm gebracht haben. Sechs von zehn Belgiern wünschen sich laut derselben Umfrage Tempo 30 in allen Innenstädt­en des Landes.

Das Argument der Sicherheit führt auch die Brüsseler Regierung ins Treffen, wenn es um die Trendwende im Mobilitäts­verhalten geht. Noch mehr aber betont sie den Klimaschut­z. Bis 2050 will Brüssel eine klimaneutr­ale Stadt sein, also nicht mehr Treibhausg­ase ausstoßen, als kompensier­t werden.

Der bisherige Klimaplan ging von einer Verringeru­ng der Emissionen um 32 Prozent bis 2030 aus. Basisjahr ist 2005. Nun wird die Latte höher gelegt: minus 40 Prozent in derselben Zeit. Das kann nur mit einschneid­enden Maßnahmen beim Verkehr funktionie­ren, der für 26 Prozent der Klimagase in der Stadt verantwort­lich ist. Brüssel will „die Nutzung des privaten Autos bis zum Jahr 2030 um bis zu ein Viertel der Fahrten reduzieren“.

Die bereits existieren­de Umweltzone Brüssel wird Jahr um Jahr ausgeweite­t. Schon jetzt dürfen alte Autos mit hohem Schadstoff­ausstoß nicht mehr ins Stadtgebie­t fahren. (Betroffen sind Dieselfahr­zeuge der Abgasnorm Euro 0, 1 und 2 sowie Benziner der Norm Euro 1). Ab 2030 soll Brüssel dann Sperrzone für alle Dieselfahr­zeuge sein, ab 2035 auch für alle Benziner.

Massiv investiere­n will die Regierung in neue Radwege und in den Ausbau von Leihnetzen – sei es für Fahrräder oder Elektrorol­ler. Gefördert werden soll zudem der Transport von Gütern auf dem Wasser, „sowohl für die Lieferung von Waren als auch von Baustoffen, um die Anzahl der Lkw weiter zu reduzieren“. Der schiffbare Kanal von Willebroek, der von Norden nach Süden durch Brüssel fließt, bietet sich an.

Die Maßnahmen im Verkehr sind übrigens nur der spektakulä­rere Teil der städtische­n Klimaschut­zpolitik. Ein weiterer, auch sozialpoli­tisch relevanter Teil, beschäftig­t sich mit Gebäudesan­ierung und Wohnungsba­u.

Das Programm, auf das sich die sechs Parteien zwei Monate nach der Regionalwa­hl geeinigt haben, ist ehrgeizig. Viele Jahre galt Brüssel als alles andere denn ein Paradies für Fußgänger und Radfahrer. In den vergangene­n Jahren jedoch erfolgte die Trendwende. Nun scheint sie unumkehrba­r.

Die Nutzung des privaten Autos soll um bis zu ein Viertel reduziert werden. Regionalre­gierung Brüssel

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BILDER: SN/STRICKER, PICTUREDES­K-AFP, ZUMA-ALVAREZ Der Boulevard Anspach war bis vor Kurzem noch eine ständig verstopfte Hauptverke­hrsroute durch das Zentrum Brüssels. Die Debatte um den Boulevard begann bereits 2012, als Aktivisten zum Picknick auf der Fahrbahn riefen.
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