Eine Stadt entschleunigt sich
Tempo 30 in ganz Brüssel. Europas Hauptstadt will anders mobil werden.
EEuropas Hauptstadt ist wie viele Städte: Zu den Stoßzeiten geht nichts mehr, die Blechlawinen auf den Hauptrouten in, aus und durch Brüssel bewegen sich quälend langsam – und oft gar nicht mehr. Doch Brüssel will wieder mobil werden, und zwar rasch und radikal. Die Parole lautet: Vorrang für Fußgänger und Radfahrer, freie Bahn den Öffis, immer mehr Verbote für Autos. „Die Verkehrsberuhigung des öffentlichen Raumes“habe „Priorität“, heißt es in dem Regierungsprogramm, auf das sich vor zehn Tagen sechs Parteien des rot-grün-liberalen Spektrums geeinigt haben. Die neue Regierung verspricht jungen und älteren Brüsselern Gratis-Fahrt mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln. Bereits ab kommendem Jahr dürfen demnach alle unter 25 und alle über 65 Jahren generell kostenlos mit Bus, Straßenbahn und U-Bahn unterwegs sein. Innerhalb der nächsten fünf Jahre soll die Busflotte um 30 Prozent aufgestockt und der lang gehegte Plan einer Verlängerung der U-Bahn-Linie 3 nach Norden angegangen werden. Dagegen wird kaum jemand etwas haben. Mehr Konfliktstoff birgt da schon ein generelles Tempolimit. Ab 1. Jänner 2021 nämlich soll in der gesamten Region Brüssel – also in allen 19 Gemeinden, aus denen die Stadt besteht – Tempo 30 gelten. „Zone 30 wird die Regel“, verspricht die Regierung. Ausnehmen will sie nur wenige große Hauptverbindungsrouten durch die Stadt. Die Polizei soll zusätzliche Mittel für die
Kontrolle des Tempolimits erhalten, vor allem vor Schulen, Spielplätzen, Parks und Fußgängerzonen wird geblitzt werden.
Schon jetzt gilt Tempo 30 in etwa der Hälfte der Brüsseler Straßen und ist naturgemäß bei den Anrainern beliebt. Die Tageszeitung „Le Soir“zitierte dieser Tage eine Umfrage, wonach 85 Prozent zufrieden mit den 30er-Zonen sind, vor allem weil sie ihnen mehr Sicherheit und weniger Lärm gebracht haben. Sechs von zehn Belgiern wünschen sich laut derselben Umfrage Tempo 30 in allen Innenstädten des Landes.
Das Argument der Sicherheit führt auch die Brüsseler Regierung ins Treffen, wenn es um die Trendwende im Mobilitätsverhalten geht. Noch mehr aber betont sie den Klimaschutz. Bis 2050 will Brüssel eine klimaneutrale Stadt sein, also nicht mehr Treibhausgase ausstoßen, als kompensiert werden.
Der bisherige Klimaplan ging von einer Verringerung der Emissionen um 32 Prozent bis 2030 aus. Basisjahr ist 2005. Nun wird die Latte höher gelegt: minus 40 Prozent in derselben Zeit. Das kann nur mit einschneidenden Maßnahmen beim Verkehr funktionieren, der für 26 Prozent der Klimagase in der Stadt verantwortlich ist. Brüssel will „die Nutzung des privaten Autos bis zum Jahr 2030 um bis zu ein Viertel der Fahrten reduzieren“.
Die bereits existierende Umweltzone Brüssel wird Jahr um Jahr ausgeweitet. Schon jetzt dürfen alte Autos mit hohem Schadstoffausstoß nicht mehr ins Stadtgebiet fahren. (Betroffen sind Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 0, 1 und 2 sowie Benziner der Norm Euro 1). Ab 2030 soll Brüssel dann Sperrzone für alle Dieselfahrzeuge sein, ab 2035 auch für alle Benziner.
Massiv investieren will die Regierung in neue Radwege und in den Ausbau von Leihnetzen – sei es für Fahrräder oder Elektroroller. Gefördert werden soll zudem der Transport von Gütern auf dem Wasser, „sowohl für die Lieferung von Waren als auch von Baustoffen, um die Anzahl der Lkw weiter zu reduzieren“. Der schiffbare Kanal von Willebroek, der von Norden nach Süden durch Brüssel fließt, bietet sich an.
Die Maßnahmen im Verkehr sind übrigens nur der spektakulärere Teil der städtischen Klimaschutzpolitik. Ein weiterer, auch sozialpolitisch relevanter Teil, beschäftigt sich mit Gebäudesanierung und Wohnungsbau.
Das Programm, auf das sich die sechs Parteien zwei Monate nach der Regionalwahl geeinigt haben, ist ehrgeizig. Viele Jahre galt Brüssel als alles andere denn ein Paradies für Fußgänger und Radfahrer. In den vergangenen Jahren jedoch erfolgte die Trendwende. Nun scheint sie unumkehrbar.
Die Nutzung des privaten Autos soll um bis zu ein Viertel reduziert werden. Regionalregierung Brüssel