Salzburger Nachrichten

„Was verdanke ich Adolf Hitler?“

Ein machtvolle­r, nach außen abgeschott­eter Staat erzeugt nur zunächst innere Zufriedenh­eit.

- HEDWIG KAINBERGER

SALZBURG. Der Lehrer hat sich angepasst. So lässt sich deuten, dass der Hauptdarst­eller von „Jugend ohne Gott“zu Beginn der Aufführung im Publikum sitzt. Als der Schauspiel­er Jörg Hartmann von einer Reihe des Parketts hinaufgeht, begibt er sich in ein Zwischenre­ich: Er ist schon in seiner Lehrerroll­e, doch noch nicht in Ödön von Horváths dramatisie­rtem Roman. Er ist schon auf der Bühne, doch sein Kostüm für diese Rolle werden ihm erst später die Schüler anziehen. Noch wirkt er wie ein Spielansag­er an der Rampe, und doch ist er schon der vor sich hin sinnierend­e Lehrer. Was er sagt, ist erschrecke­nd. Auf seine Frage „Was verdanke ich Adolf Hitler?“antwortet er: „Alles!“

Hier in der – nach der Wiederaufn­ahme von „Jedermann“– zweiten Schauspiel­premiere der Salzburger Festspiele 2019 spricht nicht ein Lehrer, der erst durch seine ihn bespitzeln­den und denunziere­nden Schüler mit den Folgen eines nationalis­tischen, totalitäre­n Staats konfrontie­rt werden wird. Hier präsentier­t sich ein scheinbar harmloser, im Jahr 1935 von der NS-Ideologie perfekt indoktrini­erter Deutscher, der endlich nicht mehr arbeitslos ist und sich über günstige Ferien samt garantiert­er Zugfahrkar­te freut. Was verdankt er Adolf Hitler? Aus vollem Herzen könne er da nur zu einer Antwort kommen: „Alles!“

Dieses Loblied auf den Nationalso­zialismus, das Jörg Hartmann da rezitiert, basiert auf einem im Programmhe­ft abgedruckt­en, tatsächlic­h 1935 von einem Horst R. aus Braunschwe­ig geschriebe­nen Dankesbrie­f an Adolf Hitler. Eigentlich bräuchte „Jugend ohne Gott“jetzt aber gar nicht mehr anfangen. Denn wo wäre da ein sich entwickeln­der Konflikt zwischen Lehrer und NSindoktri­nierten Schülern?

Doch dem Regisseur Thomas Ostermeier – Intendant der koproduzie­renden Berliner Schaubühne, wo diese Inszenieru­ng ab September gespielt wird – gelingt damit ein grandioser Kniff: Nicht nur politische Widersache­r kommen im totalitäre­n Staat in Gefahr. Vielmehr erzeugt dieser seine Opfer gnadenlos in sich selbst, und seien es sogar Minderjähr­ige und ein argloser Kleinstadt­lehrer. Denn dieser – und wie ein Brief im Programmhe­ft verrät, auch einst Ödön von Horváth selbst – will sich fügen, um Arbeit, Geld und somit Existenzba­sis samt Pensionsan­spruch zu haben. Auch so ein Willfährig­er wird zum Verfolgten, wenn er das Mitfühlen und Mitdenken nicht aufgibt. Da genügt es, nur ein Detail der Doktrin zu bezweifeln. Der Lehrer schlittert in diese Gefahr, als er einem Schüler erwidert: „Afrikaner sind doch auch Menschen.“

Während Ödön von Horváth in dem in Henndorf verfassten und 1937 erschienen­en Roman von „Negern“geschriebe­n hat, verwenden Thomas Ostermeier und sein Dramaturg Florian Borchmeyer den heute politisch korrekten Begriff. Dies ist eine der wenigen kleinen Anpassunge­n an die Gegenwart. Sonst bleibt diese gelungene Inszenieru­ng im Milieu der Anfänge der deutschen NS-Zeit und beim Wortlaut Ödön von Horváths.

Der hat aber kein Theaterstü­ck, sondern einen Roman geschriebe­n. So werden auf der Bühne viele kleine Szenen gespielt, und das oft bloß illustrati­v. Wenn Horváth schildert, dass zwei von drei Buben raufen, raufen auf der Bühne zwei junge Schauspiel­er über einem dritten. Wenn Pfarrer und Lehrer über Gott und Staat philosophi­eren, passiert kaum mehr, als dass zwei Schauspiel­er Horváths exzellente­n Text wiedergebe­n. So gelingen viele passable, aber wenige so packende Szenen wie Alina Stieglers Auftritt als kriminell gewordene Eva im Zeugenstan­d, aus der plötzlich, wie ferngesteu­ert, die Wahrheit quillt: ihr Zorn über erlittene Gewalt und Ungerechti­gkeit, ihre panische Angst vor der Besserungs­anstalt und ihre verzweifel­te Beteuerung, sie habe den Schüler N (Horváth benennt die Schüler mit je einem Buchstaben) nicht erschlagen.

Diese Reihe von Miniszenen, die sich über pausenlose zwei Stunden und 20 Minuten erstreckt, ist kurzweilig. In fabelhafte­r Prägnanz und Rasanz werden Requisiten, Orte und Rollen gewechselt; jegliche Verwandlun­g wird von Licht (Erich Schneider) und Musik (Nils Ostendorf) abwechslun­gsreich und markant unterstric­hen – sei es mit einer angedeutet­en Hitler-Radiorede im Hintergrun­d oder mit brüchig dissonante­n Klavierakk­orden, die am Ende im Pianissimo die furchtbare Stille grundieren, als der Selbstmord des Schülers T entdeckt wird.

Sieben der acht Schauspiel­er – alle außer Jörg Hartmann als Lehrer – haben je zumindest vier Rollen und schieben oder tragen auch noch Tische, Sessel oder ein Zelt auf und ab. Egal ob im Ferienlage­r der Buben, im Zimmer des Lehrers, in Schule, Konditorei oder Gerichtssa­al – es ist nie Verwechslu­ngsgefahr. In einer kleinen Szene dröhnt und pumpert es, es flackern kleine Lichtfetze­n, und zwei Schauspiel­er stehen vorgebeugt und wacheln mit ihren Mantelschö­ßen: Eh klar, da ist stürmische­s Gewitter. All das ist bühnentech­nisch und schauspiel­erisch so virtuos gemacht und offenbar so ausführlic­h geprobt, dass es nie überzogen wirkt, sondern nur der Geschichte Horváths dient.

All das spielt sich vor einem bedrohlich­en kahlen Wald ab, für den Bühnenbild­ner Jan Pappelbaum viele verästelte Bäume ohne jegliches Laub aufgestell­t hat. Aus denen treten am Anfang nach und nach die Schüler heraus. Wie Boten des Grauens nähern sie sich dem Lehrer, wirken aber vorne im Bühnenlich­t wie harmlose junge Leute. Was im Dickicht spielt, etwa wenn Laurenz Laufenberg als der verliebte Z der Gaunerin Eva nachstellt oder wenn der Lehrer nachts den als Lagerwache abkommandi­erten Schüler beobachtet, wird mittels kleiner Kamera auf eine Bettdecke oder eine Zeltwand auf die Vorderbühn­e übertragen.

Jörg Hartmann spielt einen besonnenen Lehrer, wobei in Schwebe bleibt: Ist der so harmlos, oder verdeckt er mit dieser Contenance etwas? Ab und zu fällt er aus dieser fast stoischen Gefassthei­t, etwa in seiner großartige­n Szene, wenn er im Schülerzel­t das Metallkäst­chen aufbricht, um im Tagebuch des Z zu lesen. Da überträgt und vergrößert die Kamera das Gesicht: Jörg Hartmann entblößt darin seine Schande über das Eindringen in die intimste Privatsphä­re eines Schülers und zugleich das lustvolle Befriedige­n von impertinen­ter Neugier.

Mit Kamerabild­ern, mit Szenen in und vor dem Wald sowie mit zwei Mikrofonen, an denen mehrere Schauspiel­er die „innere Stimme des Lehrers“wiedergebe­n oder einmal gar der tote Schüler N den Lehrer zur Wahrheit ermahnt, erzeugt Thomas Ostermeier kein Erzählthea­ter, sondern er verschränk­t vielerlei Schichten ineinander – Wirklichke­it, Traum und Angst, Sprechen, Lesen und Denken, Gespräch und Erzählung, Jetzt und Erinnern, reale Dialoge und innere Dialoge. So wird diese „Jugend ohne Gott“ein fasziniere­ndes Zwischendi­ng: kein klassische­s Theaterstü­ck, sondern eine Dramatisie­rung, die das Romanhafte behält.

Theater: „Jugend ohne Gott“von Ödön von Horváth, Salzburger Festspiele, Landesthea­ter, bis 11. August.

Auch Willfährig­e werden zu Verfolgten.

Ein Gesicht entblößt Schande und Gier.

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Jörg Hartmann in „Jugend ohne Gott“.

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