Alle Welt kopiert dieses Höchstgericht
Der österreichische Verfassungsgerichtshof feiert demnächst 100. Geburtstag. Seine Grundidee stieß anfänglich auf Widerstand, wurde dann aber zu einem Exportartikel.
WIEN. Wien, Innere Stadt, Freyung 8. Seit Neuestem ist das der Ort, wo Kanzlerinnen wachsen. An sich ist es der Sitz des Verfassungsgerichtshofs, der 2020 seinen 100. Geburtstag feiert und einen der erfolgreichsten Exportartikel Österreichs darstellt. Mehr als hundert Staaten weltweit verfügen heute über jene spezielle Form von Verfassungsgerichtsbarkeit, die 1919/20 in Österreich erfunden wurde.
Die Idee, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, entstand schon viel früher in den USA. Dort ist dies eine Aufgabe des Obersten Gerichtshofs, und auch jeder Richter eines US-Gerichts kann ein Gesetz für verfassungswidrig erklären. Eine eigene Institution für diese Aufgabe zu schaffen ist eine „österreichische Kulturleistung mit Weltgeltung“, wie es der frühere VfGH-Präsident Gerhart Holzinger einmal formulierte.
Die Gründe dafür hängen mit einem Spannungsfeld zusammen, das Österreich auch hundert Jahre später noch beschäftigt – jenes zwischen Bund und Ländern. Das kam so: Nach der Ausrufung der Republik wurde 1919 per Gesetz ein Verfassungsgerichtshof eingerichtet, der an die Stelle des Reichsgerichts der Monarchie trat. Seine Kompetenz der Gesetzesprüfung war allerdings auf Landesgesetze beschränkt. Die damals im Bund regierenden Sozialdemokraten wollten damit der Bundesgesetzgebung den Vorrang vor der Ländergesetzgebung einräumen und so ihrem Ziel eines zentralistischen Staates näher kommen. Für die damals großteils schwarz regierten Bundesländer war das undenkbar. Der Kompromiss, der dann in der Bundesverfassung 1920 erzielt wurde und bis heute gilt, lautete: Sowohl Bundesals auch Landesgesetze können vom VfGH auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden.
Die Idee, die Gesetzgebung einer Überprüfung durch Richter zu unterwerfen, stieß in anderen Ländern auf Unverständnis und wurde etwa in der Weimarer Republik als undemokratisch abgelehnt. Schließlich, so hieß es, könnten demokratisch nicht legitimierte Richter doch nicht über den Willen der Volksvertretung befinden. Ein Umdenken setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen der 1920er- und 1930er-Jahre ein, als sich die Demokratien in Europa reihenweise selbst demontiert hatten. Nun begann sich die Überzeugung durchzusetzen, dass es eine Institution jenseits der Tagespolitik braucht, die Verfassung und Demokratie schützt und auf die Einhaltung der politischen Spielregeln etwa bei Wahlen achtet. Nach dem Zerfall des Ostblocks führten auch die von der kommunistischen Diktatur traumatisierten osteuropäischen Staaten Verfassungsgerichte ein, um ihren jungen Demokratien Stabilität zu verleihen. Eine ähnliche Entwicklung gab es in einer Reihe von Staaten in Lateinamerika, Asien und Afrika.
Die Frage der demokratischen Legitimation der Verfassungsrichter wird aber bis heute gestellt, zumal die Politik immer mehr dazu neigt, heikle Entscheidungen auf die Verfassungsgerichte abzuwälzen. In Österreich erfolgt die Bestellung der Verfassungsrichter indirekt demokratisch: Der VfGH besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, zwölf Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern, alle ernannt vom Bundespräsidenten. Der Präsident, der Vizepräsident, sechs Mitglieder und drei Ersatzmitglieder werden auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt. Drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder schlägt der Nationalrat vor. Drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied benennt der Bundesrat.
Alle Mitglieder des VfGH sind unabsetzbar. Sie scheiden mit Ablauf des Jahres, in dem sie das 70. Lebensjahr vollenden, aus dem Amt, sind also mitunter jahrzehntelang tätig. Bei der Bestellung der Verfassungsrichter gibt es übrigens eine bemerkenswerte, wenn auch kleine föderalistische Komponente. Drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder des VfGH müssen laut Bundesverfassung ihren Wohnsitz außerhalb Wiens haben.
Die Mitglieder des VfGH rekrutieren sich aus allen juristischen Berufen – Richter, Beamte, Professoren und Anwälte –, was Lebensnähe und eine breite Expertise sicherstellen soll. Denn überaus breit sind auch die Aufgaben, die dem VfGH gestellt werden.
Der Gerichtshof erfüllt sie offensichtlich so gut, dass seine Präsidentin Brigitte Bierlein nach der Regierungskrise im Juni für würdig befunden wurde, das Amt der Bundeskanzlerin zu übernehmen. Für ihre Nachfolge an der Spitze des VfGH heißt es derzeit „Bitte warten“. Diese Entscheidung soll erst die nächste Bundesregierung treffen.
Eine Quotenregelung für Nicht-Wiener als Verfassungsrichter