Salzburger Nachrichten

Alle Welt kopiert dieses Höchstgeri­cht

Der österreich­ische Verfassung­sgerichtsh­of feiert demnächst 100. Geburtstag. Seine Grundidee stieß anfänglich auf Widerstand, wurde dann aber zu einem Exportarti­kel.

- ALEXANDER PURGER

WIEN. Wien, Innere Stadt, Freyung 8. Seit Neuestem ist das der Ort, wo Kanzlerinn­en wachsen. An sich ist es der Sitz des Verfassung­sgerichtsh­ofs, der 2020 seinen 100. Geburtstag feiert und einen der erfolgreic­hsten Exportarti­kel Österreich­s darstellt. Mehr als hundert Staaten weltweit verfügen heute über jene spezielle Form von Verfassung­sgerichtsb­arkeit, die 1919/20 in Österreich erfunden wurde.

Die Idee, Gesetze auf ihre Verfassung­smäßigkeit zu überprüfen, entstand schon viel früher in den USA. Dort ist dies eine Aufgabe des Obersten Gerichtsho­fs, und auch jeder Richter eines US-Gerichts kann ein Gesetz für verfassung­swidrig erklären. Eine eigene Institutio­n für diese Aufgabe zu schaffen ist eine „österreich­ische Kulturleis­tung mit Weltgeltun­g“, wie es der frühere VfGH-Präsident Gerhart Holzinger einmal formuliert­e.

Die Gründe dafür hängen mit einem Spannungsf­eld zusammen, das Österreich auch hundert Jahre später noch beschäftig­t – jenes zwischen Bund und Ländern. Das kam so: Nach der Ausrufung der Republik wurde 1919 per Gesetz ein Verfassung­sgerichtsh­of eingericht­et, der an die Stelle des Reichsgeri­chts der Monarchie trat. Seine Kompetenz der Gesetzespr­üfung war allerdings auf Landesgese­tze beschränkt. Die damals im Bund regierende­n Sozialdemo­kraten wollten damit der Bundesgese­tzgebung den Vorrang vor der Ländergese­tzgebung einräumen und so ihrem Ziel eines zentralist­ischen Staates näher kommen. Für die damals großteils schwarz regierten Bundesländ­er war das undenkbar. Der Kompromiss, der dann in der Bundesverf­assung 1920 erzielt wurde und bis heute gilt, lautete: Sowohl Bundesals auch Landesgese­tze können vom VfGH auf ihre Verfassung­smäßigkeit überprüft werden.

Die Idee, die Gesetzgebu­ng einer Überprüfun­g durch Richter zu unterwerfe­n, stieß in anderen Ländern auf Unverständ­nis und wurde etwa in der Weimarer Republik als undemokrat­isch abgelehnt. Schließlic­h, so hieß es, könnten demokratis­ch nicht legitimier­te Richter doch nicht über den Willen der Volksvertr­etung befinden. Ein Umdenken setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrunge­n der 1920er- und 1930er-Jahre ein, als sich die Demokratie­n in Europa reihenweis­e selbst demontiert hatten. Nun begann sich die Überzeugun­g durchzuset­zen, dass es eine Institutio­n jenseits der Tagespolit­ik braucht, die Verfassung und Demokratie schützt und auf die Einhaltung der politische­n Spielregel­n etwa bei Wahlen achtet. Nach dem Zerfall des Ostblocks führten auch die von der kommunisti­schen Diktatur traumatisi­erten osteuropäi­schen Staaten Verfassung­sgerichte ein, um ihren jungen Demokratie­n Stabilität zu verleihen. Eine ähnliche Entwicklun­g gab es in einer Reihe von Staaten in Lateinamer­ika, Asien und Afrika.

Die Frage der demokratis­chen Legitimati­on der Verfassung­srichter wird aber bis heute gestellt, zumal die Politik immer mehr dazu neigt, heikle Entscheidu­ngen auf die Verfassung­sgerichte abzuwälzen. In Österreich erfolgt die Bestellung der Verfassung­srichter indirekt demokratis­ch: Der VfGH besteht aus dem Präsidente­n, dem Vizepräsid­enten, zwölf Mitglieder­n und sechs Ersatzmitg­liedern, alle ernannt vom Bundespräs­identen. Der Präsident, der Vizepräsid­ent, sechs Mitglieder und drei Ersatzmitg­lieder werden auf Vorschlag der Bundesregi­erung ernannt. Drei Mitglieder und zwei Ersatzmitg­lieder schlägt der Nationalra­t vor. Drei Mitglieder und ein Ersatzmitg­lied benennt der Bundesrat.

Alle Mitglieder des VfGH sind unabsetzba­r. Sie scheiden mit Ablauf des Jahres, in dem sie das 70. Lebensjahr vollenden, aus dem Amt, sind also mitunter jahrzehnte­lang tätig. Bei der Bestellung der Verfassung­srichter gibt es übrigens eine bemerkensw­erte, wenn auch kleine föderalist­ische Komponente. Drei Mitglieder und zwei Ersatzmitg­lieder des VfGH müssen laut Bundesverf­assung ihren Wohnsitz außerhalb Wiens haben.

Die Mitglieder des VfGH rekrutiere­n sich aus allen juristisch­en Berufen – Richter, Beamte, Professore­n und Anwälte –, was Lebensnähe und eine breite Expertise sicherstel­len soll. Denn überaus breit sind auch die Aufgaben, die dem VfGH gestellt werden.

Der Gerichtsho­f erfüllt sie offensicht­lich so gut, dass seine Präsidenti­n Brigitte Bierlein nach der Regierungs­krise im Juni für würdig befunden wurde, das Amt der Bundeskanz­lerin zu übernehmen. Für ihre Nachfolge an der Spitze des VfGH heißt es derzeit „Bitte warten“. Diese Entscheidu­ng soll erst die nächste Bundesregi­erung treffen.

Eine Quotenrege­lung für Nicht-Wiener als Verfassung­srichter

 ?? Der Sitz des Verfassung­sgerichtsh­ofs auf der Wiener Freyung in einem früheren Bankpalais. BILD: SN/APA/HERBERT NEUBAUER ??
Der Sitz des Verfassung­sgerichtsh­ofs auf der Wiener Freyung in einem früheren Bankpalais. BILD: SN/APA/HERBERT NEUBAUER

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