Salzburger Nachrichten

Die Demokratie ist in der Defensive

Als der Ostblock 1989 zerfiel, war euphorisch vom Triumph der Demokratie weltweit die Rede. Aber inzwischen ist die demokratis­che Regierungs­form in eine Rezession geraten.

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Geradezu euphorisch war die Reaktion vieler Türken auf das Ergebnis der Bürgermeis­terwahl in Istanbul. Dass dort der Opposition­spolitiker Ekrem Imamoğlu gegen den Kandidaten der Regierungs­partei AKP gewonnen hat, werten sie als Zeichen dafür, dass die Ära von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in absehbarer Zeit zu Ende gehen könnte. Er könnte dem schier allmächtig­en Staatschef der Türkei die Macht streitig machen.

Vor allem signalisie­rt der Ausgang dieser Abstimmung in der Bosporus-Metropole, dass die Menschen umdenken und autoritäre Strukturen trotz aller Manipulati­onsversuch­e infrage stellen können. Eine demokratis­che Wende ist sogar in einem Moment möglich, in dem die Herrschend­en ihre Macht bereits zementiert zu haben scheinen.

Auch die Entwicklun­g anderswo konnten Freiheitsf­reunde in diesem Jahr freudestra­hlend zur Kenntnis nehmen. In Algerien demonstrie­rten Hunderttau­sende Menschen monatelang gegen eine weitere Amtszeit von Abdelaziz Bouteflika. Die Armee als maßgeblich­er Machtfakto­r in dem Maghreb-Staat erzwang schließlic­h den Rücktritt des seit zwei Jahrzehnte­n herrschend­en Staatschef­s.

Im Sudan setzten die Streitkräf­te angesichts von anhaltende­n Massenprot­esten den seit 30 Jahren regierende­n Despoten Omar al-Baschir ab. Hunderttau­sende Menschen forderten daraufhin eine zivile Regierung in dem afrikanisc­h-arabischen Land.

Sogleich war von einem zweiten „arabischen Frühling“die Rede. Doch das ist viel zu optimistis­ch gedacht, weil man sich nur mit Schrecken an das Scheitern des arabischen Aufstands 2011 erinnern kann. Zwar sind seinerzeit despotisch­e Herrscher in der arabischen Welt reihenweis­e gestürzt worden, von Staatschef Ben Ali in Tunesien über Diktator Muammar al-Gadafi in Libyen bis Präsident Hosni Mubarak in Ägypten.

Aber mit der Ausnahme Tunesiens ist nirgendwo der Aufbruch zu einer demokratis­chen Ordnung gelungen. Stattdesse­n herrscht blutiger Bürgerkrie­g wie in Syrien und im Jemen oder wieder politische Repression. In Ägypten zum Beispiel ist die autokratis­che Herrschaft des Militärs heute brutaler denn je.

Überhaupt ist der Siegeszug der Demokratie, den manche Beobachter nach dem Ende des Kalten Krieges prophezeit haben, längst gestoppt worden. Von einem endgültige­n Triumph der liberalen Demokratie hat etwa der amerikanis­che Politikexp­erte Francis Fukuyama seinerzeit gesprochen. Seit bald eineinhalb Jahrzehnte­n aber ist die Demokratie, wie das US-Forschungs­institut Freedom House feststellt, weltweit wieder auf dem Rückzug.

Mehr Mächte als in früheren Jahren agieren demnach heute autoritär; sie knebeln die Opposition und setzen unabhängig­e Medien unter Druck. Staaten, die vor drei Jahrzehnte­n die Transforma­tion hin zu einer Demokratie begonnen haben, fallen wieder zurück. Sogar in klassische­n Demokratie­n sind rechtspopu­listische Kräfte auf dem Vormarsch, die fundamenta­le Prinzipien wie Minderheit­enrechte und Gewaltente­ilung ablehnen.

„Heute ist der Autoritari­smus die größte Herausford­erung der liberalen, demokratis­chen Welt“, betont der amerikanis­che Analytiker Robert Kagan. „Er tritt nun als geopolitis­che Kraft auf, wobei starke Nationen wie China und Russland den Antilibera­lismus als Alternativ­e zu der wankenden liberalen Hegemonie propagiere­n. Ausgerüste­t mit neuen und bisher unvorstell­baren Instrument­en sozialer Kontrolle und Zersetzung, stärkt er die autoritäre Herrschaft zu Hause, projiziert sie ins Ausland und greift ins Herz unserer liberalen Gesellscha­ften, um sie von innen zu unterminie­ren.“

Russland nutzt die neuen digitalen Möglichkei­ten zu massiven Desinforma­tionskampa­gnen gegen die westlichen Demokratie­n. Das hat bereits der Angriff der Russen auf die USWahlen 2016 gezeigt. Die Volksrepub­lik China imponiert als kapitalist­isch-kommunisti­scher Polizeista­at, der wirtschaft­lich erfolgreic­h ist, offensicht­lich vielen in der Welt – etwa autokratis­chen Herrschern in Afrika – und kann so ihren Einfluss steigern.

Doch noch stärker als von solchen Außenmächt­en wird die Stabilität unserer Demokratie­n wohl von innen bedroht. Dies geschieht zum Beispiel, wenn Regierende in ostmittele­uropäische­n EU-Staaten die Rechtsstaa­tlichkeit einschränk­en oder in anderer Weise Grundwerte missachten. HELMUT.MUELLER@SN.AT

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BILD: SN/AP Geknebelt: Hongkongs Bürger kämpfen für ihre Versammlun­gs- und Meinungsfr­eiheit.
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Helmut L. Müller

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