Endstation Tankstelle
Das Auto glüht, der Vorhang fällt. War’s das? Regisseur Simon Stone versucht im Großen Festspielhaus, Luigi Cherubinis Oper „Médée“in die Gegenwart zu holen. Ein Krimi soll der Größe des Mythos gewachsen sein. Das ist so radikal wie riskant.
Von Anfang: Die Ehe ist zerrüttet, Papa hat leider keine Zeit, seine Kinder zum Konzert zu begleiten: Das ist doch immer Mamasache. Natürlich hat er ein Meeting, das ihn davon abhält. Wie man das halt so sagt. Oder per SMS versendet. Fern vom schönen Salzkammergut wartet nämlich schon die Geliebte in der Stadt. Einheimische erkennen sogar gleich, wo das ist: auf dem Kajetanerplatz.
So konkret verortet Regisseur Simon Stone, der auch sein eigener Kameramann ist, im SchwarzWeiß-Film, der auf Breitwand im Großen Festspielhaus projiziert wird, die Geschichte von Jason und Medea: ein Beziehungsdrama. Auf der Scheidungsurkunde steht dann sogar ein Familienname.
Als Tonspur läuft dazu die Ouverture zur Oper „Médée“von Luigi Cherubini, 1797. Connaisseurs halten dieses Werk zu Recht für einen zwischen Klassik und Frühromantik stehenden Wurf: einen Solitär. Opern-Aficionados rollen die Augen: Maria Callas! Dabei sang die Diva assoluta eine italienische Version der französischen Opéra, aufgemotzt durch hochromantische Zutaten. Aber sie machte das Werk breiteren Kreisen bekannt. Und Pier Paolo Pasolini schuf aus dem Stoff 1969 mit ihr einen Filmklassiker. Also ist der aktuelle Bezug zum Film nicht so abwegig.
Leider hörte sich die Tonspur zu diesem Zeitpunkt bei der Premiere am Dienstag im Großen Festspielhaus auch noch sehr nach „Filmmusik“an. Die Wiener Philharmoniker haben sich wohl noch nicht so richtig angefreundet mit dem ungewohnten, ungewöhnlichen Werk. Da ist, von unten, aus dem Orchestergraben, noch viel Luft nach oben.
Aber der Film ist längst nicht alles. Simon Stones Bühnenbildner Bob Cousins hat, präzise unterstützt durch die Kostüme von Mel Page und das Licht von Nick Schlieper, auch aufwendige reale (Breitwand-)Räume entworfen: hyperrealistisch und als Simultanszenerie. Dircé bereitet sich auf die Hochzeit mit Jason vor. Also sieht man einen Brautkleidersalon, wo Néris und zwei Begleiterinnen der Braut das Hochzeitskleid wählen. Natürlich gibt es nicht nur den Showroom, sondern auch zwei Ankleidekabinen, alles penibel bis ins kleinste Detail ausgeführt.
Eine heitere Eingangsszene, von lieblichen Flötentönen umspielt, ist wie ein Singspielauftakt, dem kleine, ahnungsvolle Momente einer nicht wirklich geheuren Zukunft untergemischt sind. Es wäre schön, würde man davon Deutlicheres hören. An Cherubini liegt es nicht, an der Stimme Rosa Feolas auch nicht, an der orchestralen Atmosphäre schon weit eher. Man spürt, je länger, je mehr, wie sehr sich Thomas Hengelbrock als Dirigent bemüht, die Klangcharaktere des schwierigen Stücks herauszuschälen. Die Musik will dem Sprachduktus abgelauscht sein, sonst wird sie leicht langweilig. Das aber brauchte instrumentale Fantasie und Inspiration. Die Philharmoniker verwalten einstweilen die Noten.
Nächste Szene: eine raumgreifende Hotellobby, scheußlich 1950erJahre-furniert, es kommen Hochzeitsgäste an, empfangen von Créon, Minister und vielleicht auch Chef jenes Sexclubs, der alsbald rot blinkend hereingefahren wird. Vitalij Kowaljow singt und spielt Créon ziemlich zeremoniell und steif.
Der Bräutigam braucht noch rasch einen Kick, deswegen holt er sich auch eine Dame auf sein Zimmer; sie duscht sich (in der Probe soll sie auch in echt funktioniert haben), das Höschen bleibt liegen.
Aber das Telefon nervt. Denn immer wieder ruft ihn seine Geliebte aus weiter Ferne an, Médée. Wir hören die Sprachnachrichten, die ins Leere gehen (und die von Amira Casar aus dem Off mit einem fremd grundierten Akzent französisch eingesprochen sind). Médée liebt Jason immer noch, ist auf dem Weg zurück zu ihm, obwohl es schwer ist, aus ihrer Heimat herauszukommen. Sie hat ein billiges Flugticket über Istanbul buchen können. „Es macht mich krank, mit den Kindern zu skypen. Ich möchte sie in den Armen halten.“
Simon Stone hat – man kennt das aus seinen Überschreibungen bekannter Dramen, darunter war auch schon die „Medea“– das Ohr sehr genau an der Sprache unserer Zeit, ist ein scharfer, zugeneigter Beobachter des Alltags. In dieser radikal ins Heute geholten Opernaufführung eliminieren Telefonate nicht nur die originalen Alexandriner, sie werden auch (ziemlich virtuos) als szenisches Mittel eingesetzt für das erste (Fern-)Duett zwischen Jason und Médée.
Wiederum: Das Orchester spricht dazu nicht deutlich genug, dafür zeigt Elena Stikhina zum ersten Mal, zu welch differenzierten stimmlichen Ausdrucksfacetten sie fähig ist. Weitab vom TragödinnenImage, ohne alle Diven-Allüren, weder Rachefurie noch bloße hasserfüllte Wutschleuder, zeigt sie eine verletzliche, verliebte, betrogene, hintergangene, gedemütigt beiseitegeschobene Frau, die nur eines will: die ihr zustehende Liebe des Mannes – oder wenigstens der Kinder. Keine (über-)große, dafür aber eine intensive, sich vor allem intensiv einlassende Stimme. Elena Stikhina singt wirklich wie um ihr Leben – und wird am Ende vom Premierenpublikum für diesen Einsatz zu Recht gefeiert.
Jason ist indes ein ziemlich desinteressierter, recht empathieleerer Schlaffi; leider singt ihn Pavel Černoch auch ohne sonderlichen Aplomb, neutral, die Höhen sprechen nicht immer leicht genug an, in den dunkleren Registern stellt sich größere Festigkeit ein.
Bei Weitem nicht alles ist auch wirklich logisch nachvollziehbar, Ungereimtheiten muss man in Kauf nehmen. Die Ankunft der Fremden wird live im Fernsehen übertragen. Die Headline auf dem Bildschirm: „Minister verhindert illegale Einreise“, etwas weit hergeholt; das Terzett mit Chor zwischen Créon, Médée und ihrer Freundin Néris splittet der Regisseur dabei raffiniert simultan zwischen Gate und Appartement auf. Nachdem es Médée gelungen ist, auf dem Flughafen von Créon einen Tag Gnadenfrist zu erlangen, übergibt ihr Jason die Kinder so beiläufig wie lieblos an einer tristen Bushaltestelle.
Das Duett „Geliebte Kinder“ist ein faszinierend ausgehorchtes, klangsprachlich feinst nuanciertes Stück Theatermusik; zwei fremd gewordene Menschen bleiben sich fremd. Wie kann man da die Seufzermotive in den Geigen nur so fühllos spielen? Und davor schon, in der herzbewegenden Trauerarie der Néris, ein mindestens so herzbewegendes Fagottsolo im Dialog mit der subtil geführten Stimme von Alisa Kolosova so seelenlos buchstabieren? Dazwischen rettet man sich fallweise ins forcierte Alfresco-Spiel. Und hat doch noch einen (natürlich filmisch illustrierten) großen Moment: die Überleitung ins Schlussbild. So plastisch hätte man sich alles gerne gewünscht.
Das Roadmovie endet schließlich vor einer trostlosen Tankstelle. Doch was passiert da, sozusagen auf den letzten Metern? Der zuvor so penibel präzise Regisseur kapituliert. Die Aktionen zum Doppelmord (und Selbstmord) brauchen ihre musikalische Zeit, Médées aufwühlende, bis zum Zerreißen widerstreitende Gefühle im gewaltigen Schlussmonolog ebenso. Médée verspritzt Benzin. Aber als aus den dunklen Tiefen der Bühne, weil es eben so sein muss, Statisten und Chor (noch dazu als Feuerwehrleute und Polizisten) auftauchen und Jason einen weinerlichen Versuch startet zur Versöhnung, erstarrt alles zur Pose, herrscht plötzlich nur minutenlang hilflose Opernfinalkonvention. Das Auto raucht, der Vorhang fällt.
Und Fragen bleiben. Hat Simon Stone nun eine billige Kolportagestory geliefert und den „Mythos“geopfert? Sind Dramaturgie des Stücks und musikalischer Anspruch nicht erschütternder, als sie sich im Plot eines Bühnen-„Krimis“zeigen können? Was verschenkt die Aufführung, was schenkt sie sich? Und was gewinnt sie für heutige Augen und Ohren? Stellt sich gar, wie im Theater der Antike fundamental gefordert, Katharsis, Erkenntnis, Läuterung ein? Antworten darauf lässt die auf jeden Fall eindrucksvoll gemachte Aufführung offen.
Aber umgekehrt: Ist, für heutige Augen und Ohren, die unfassbare Tat Medeas (und damit die unfassbare Größe eines Mythos) überhaupt darstellbar? Der Sinn des Mythos als Kraftstoff, Bilderstoff, Denkstoff: Er klafft dann doch wie eine offene Wunde.