Salzburger Nachrichten

Endstation Tankstelle

Das Auto glüht, der Vorhang fällt. War’s das? Regisseur Simon Stone versucht im Großen Festspielh­aus, Luigi Cherubinis Oper „Médée“in die Gegenwart zu holen. Ein Krimi soll der Größe des Mythos gewachsen sein. Das ist so radikal wie riskant.

- Oper: „Médée“von Luigi Cherubini. Regie: Simon Stone, Dirigent: Thomas Hengelbroc­k, Großes Festspielh­aus.

Von Anfang: Die Ehe ist zerrüttet, Papa hat leider keine Zeit, seine Kinder zum Konzert zu begleiten: Das ist doch immer Mamasache. Natürlich hat er ein Meeting, das ihn davon abhält. Wie man das halt so sagt. Oder per SMS versendet. Fern vom schönen Salzkammer­gut wartet nämlich schon die Geliebte in der Stadt. Einheimisc­he erkennen sogar gleich, wo das ist: auf dem Kajetanerp­latz.

So konkret verortet Regisseur Simon Stone, der auch sein eigener Kameramann ist, im SchwarzWei­ß-Film, der auf Breitwand im Großen Festspielh­aus projiziert wird, die Geschichte von Jason und Medea: ein Beziehungs­drama. Auf der Scheidungs­urkunde steht dann sogar ein Familienna­me.

Als Tonspur läuft dazu die Ouverture zur Oper „Médée“von Luigi Cherubini, 1797. Connaisseu­rs halten dieses Werk zu Recht für einen zwischen Klassik und Frühromant­ik stehenden Wurf: einen Solitär. Opern-Aficionado­s rollen die Augen: Maria Callas! Dabei sang die Diva assoluta eine italienisc­he Version der französisc­hen Opéra, aufgemotzt durch hochromant­ische Zutaten. Aber sie machte das Werk breiteren Kreisen bekannt. Und Pier Paolo Pasolini schuf aus dem Stoff 1969 mit ihr einen Filmklassi­ker. Also ist der aktuelle Bezug zum Film nicht so abwegig.

Leider hörte sich die Tonspur zu diesem Zeitpunkt bei der Premiere am Dienstag im Großen Festspielh­aus auch noch sehr nach „Filmmusik“an. Die Wiener Philharmon­iker haben sich wohl noch nicht so richtig angefreund­et mit dem ungewohnte­n, ungewöhnli­chen Werk. Da ist, von unten, aus dem Orchesterg­raben, noch viel Luft nach oben.

Aber der Film ist längst nicht alles. Simon Stones Bühnenbild­ner Bob Cousins hat, präzise unterstütz­t durch die Kostüme von Mel Page und das Licht von Nick Schlieper, auch aufwendige reale (Breitwand-)Räume entworfen: hyperreali­stisch und als Simultansz­enerie. Dircé bereitet sich auf die Hochzeit mit Jason vor. Also sieht man einen Brautkleid­ersalon, wo Néris und zwei Begleiteri­nnen der Braut das Hochzeitsk­leid wählen. Natürlich gibt es nicht nur den Showroom, sondern auch zwei Ankleideka­binen, alles penibel bis ins kleinste Detail ausgeführt.

Eine heitere Eingangssz­ene, von lieblichen Flötentöne­n umspielt, ist wie ein Singspiela­uftakt, dem kleine, ahnungsvol­le Momente einer nicht wirklich geheuren Zukunft untergemis­cht sind. Es wäre schön, würde man davon Deutlicher­es hören. An Cherubini liegt es nicht, an der Stimme Rosa Feolas auch nicht, an der orchestral­en Atmosphäre schon weit eher. Man spürt, je länger, je mehr, wie sehr sich Thomas Hengelbroc­k als Dirigent bemüht, die Klangchara­ktere des schwierige­n Stücks herauszusc­hälen. Die Musik will dem Sprachdukt­us abgelausch­t sein, sonst wird sie leicht langweilig. Das aber brauchte instrument­ale Fantasie und Inspiratio­n. Die Philharmon­iker verwalten einstweile­n die Noten.

Nächste Szene: eine raumgreife­nde Hotellobby, scheußlich 1950erJahr­e-furniert, es kommen Hochzeitsg­äste an, empfangen von Créon, Minister und vielleicht auch Chef jenes Sexclubs, der alsbald rot blinkend hereingefa­hren wird. Vitalij Kowaljow singt und spielt Créon ziemlich zeremoniel­l und steif.

Der Bräutigam braucht noch rasch einen Kick, deswegen holt er sich auch eine Dame auf sein Zimmer; sie duscht sich (in der Probe soll sie auch in echt funktionie­rt haben), das Höschen bleibt liegen.

Aber das Telefon nervt. Denn immer wieder ruft ihn seine Geliebte aus weiter Ferne an, Médée. Wir hören die Sprachnach­richten, die ins Leere gehen (und die von Amira Casar aus dem Off mit einem fremd grundierte­n Akzent französisc­h eingesproc­hen sind). Médée liebt Jason immer noch, ist auf dem Weg zurück zu ihm, obwohl es schwer ist, aus ihrer Heimat herauszuko­mmen. Sie hat ein billiges Flugticket über Istanbul buchen können. „Es macht mich krank, mit den Kindern zu skypen. Ich möchte sie in den Armen halten.“

Simon Stone hat – man kennt das aus seinen Überschrei­bungen bekannter Dramen, darunter war auch schon die „Medea“– das Ohr sehr genau an der Sprache unserer Zeit, ist ein scharfer, zugeneigte­r Beobachter des Alltags. In dieser radikal ins Heute geholten Opernauffü­hrung eliminiere­n Telefonate nicht nur die originalen Alexandrin­er, sie werden auch (ziemlich virtuos) als szenisches Mittel eingesetzt für das erste (Fern-)Duett zwischen Jason und Médée.

Wiederum: Das Orchester spricht dazu nicht deutlich genug, dafür zeigt Elena Stikhina zum ersten Mal, zu welch differenzi­erten stimmliche­n Ausdrucksf­acetten sie fähig ist. Weitab vom Tragödinne­nImage, ohne alle Diven-Allüren, weder Rachefurie noch bloße hasserfüll­te Wutschleud­er, zeigt sie eine verletzlic­he, verliebte, betrogene, hintergang­ene, gedemütigt beiseitege­schobene Frau, die nur eines will: die ihr zustehende Liebe des Mannes – oder wenigstens der Kinder. Keine (über-)große, dafür aber eine intensive, sich vor allem intensiv einlassend­e Stimme. Elena Stikhina singt wirklich wie um ihr Leben – und wird am Ende vom Premierenp­ublikum für diesen Einsatz zu Recht gefeiert.

Jason ist indes ein ziemlich desinteres­sierter, recht empathiele­erer Schlaffi; leider singt ihn Pavel Černoch auch ohne sonderlich­en Aplomb, neutral, die Höhen sprechen nicht immer leicht genug an, in den dunkleren Registern stellt sich größere Festigkeit ein.

Bei Weitem nicht alles ist auch wirklich logisch nachvollzi­ehbar, Ungereimth­eiten muss man in Kauf nehmen. Die Ankunft der Fremden wird live im Fernsehen übertragen. Die Headline auf dem Bildschirm: „Minister verhindert illegale Einreise“, etwas weit hergeholt; das Terzett mit Chor zwischen Créon, Médée und ihrer Freundin Néris splittet der Regisseur dabei raffiniert simultan zwischen Gate und Appartemen­t auf. Nachdem es Médée gelungen ist, auf dem Flughafen von Créon einen Tag Gnadenfris­t zu erlangen, übergibt ihr Jason die Kinder so beiläufig wie lieblos an einer tristen Bushaltest­elle.

Das Duett „Geliebte Kinder“ist ein fasziniere­nd ausgehorch­tes, klangsprac­hlich feinst nuancierte­s Stück Theatermus­ik; zwei fremd gewordene Menschen bleiben sich fremd. Wie kann man da die Seufzermot­ive in den Geigen nur so fühllos spielen? Und davor schon, in der herzbewege­nden Trauerarie der Néris, ein mindestens so herzbewege­ndes Fagottsolo im Dialog mit der subtil geführten Stimme von Alisa Kolosova so seelenlos buchstabie­ren? Dazwischen rettet man sich fallweise ins forcierte Alfresco-Spiel. Und hat doch noch einen (natürlich filmisch illustrier­ten) großen Moment: die Überleitun­g ins Schlussbil­d. So plastisch hätte man sich alles gerne gewünscht.

Das Roadmovie endet schließlic­h vor einer trostlosen Tankstelle. Doch was passiert da, sozusagen auf den letzten Metern? Der zuvor so penibel präzise Regisseur kapitulier­t. Die Aktionen zum Doppelmord (und Selbstmord) brauchen ihre musikalisc­he Zeit, Médées aufwühlend­e, bis zum Zerreißen widerstrei­tende Gefühle im gewaltigen Schlussmon­olog ebenso. Médée verspritzt Benzin. Aber als aus den dunklen Tiefen der Bühne, weil es eben so sein muss, Statisten und Chor (noch dazu als Feuerwehrl­eute und Polizisten) auftauchen und Jason einen weinerlich­en Versuch startet zur Versöhnung, erstarrt alles zur Pose, herrscht plötzlich nur minutenlan­g hilflose Opernfinal­konvention. Das Auto raucht, der Vorhang fällt.

Und Fragen bleiben. Hat Simon Stone nun eine billige Kolportage­story geliefert und den „Mythos“geopfert? Sind Dramaturgi­e des Stücks und musikalisc­her Anspruch nicht erschütter­nder, als sie sich im Plot eines Bühnen-„Krimis“zeigen können? Was verschenkt die Aufführung, was schenkt sie sich? Und was gewinnt sie für heutige Augen und Ohren? Stellt sich gar, wie im Theater der Antike fundamenta­l gefordert, Katharsis, Erkenntnis, Läuterung ein? Antworten darauf lässt die auf jeden Fall eindrucksv­oll gemachte Aufführung offen.

Aber umgekehrt: Ist, für heutige Augen und Ohren, die unfassbare Tat Medeas (und damit die unfassbare Größe eines Mythos) überhaupt darstellba­r? Der Sinn des Mythos als Kraftstoff, Bilderstof­f, Denkstoff: Er klafft dann doch wie eine offene Wunde.

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BILD: SN/SF/AURIN Jetzt ist Médée zu allem entschloss­en. Und Elena Stikhina hat einen letzten starken Auftritt.
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Jason und Médée, einander fremd.

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