In der Musik gibt es die meisten Wunderkinder
DEREK WEBER SALZBURG. Ein Theorem besagt, dass Wunderkinder einem familiären Umfeld entstammen, das sich durch signifikante Häufung von autistischen Personen auszeichnet. Jedenfalls werden Wunderkinder aus gewissen Zwangsverhältnissen heraus geformt: Oft sind es ehrgeizige Mütter, die ihre Kinder aufs Podium treiben, auf dem sie sich von klein auf präsentieren müssen. Auch Väter können zum Treibfaktor werden. Ein Beispiel dafür ist neben Leopold Mozart der ehrgeizige Vater eines seiner Zeitgenossen, des Cellisten Zygmontofsky, der seinen Sohn sogar so malträtierte, dass dieser im Alter von elf Jahren starb. Auch Niccolò Paganini berichtete vom ersten Unterricht, den er in frühester Jugend von seinem Vater erhalten hatte: Wenn er dessen Ansprüchen nicht genügte, erhielt er nichts zu essen.
Das erste Wunderkind, das einem – zumal in Salzburg – in den Sinn kommt, ist Wolfgang Amadeus Mozart. Der musste schon mit sechs Jahren auf Konzertreisen gehen, komponierte viel und schrieb mit zehn seine erste Oper („Die Schuldigkeit des ersten Gebots“).
Die meisten Wunderkinder begegnen einem in der Musik. Denn da gab und gibt es, zumindest für auf Podien auftretende Musiker (also „Virtuosen“), viele Möglichkeiten, sich bekannt zu machen. Beispiele für musikalische Wunderkinder in unserer Zeit sind neben Anne-Sophie Mutter, die vierzehnjährig in Salzburg unter Herbert von Karajan auftrat, Daniel Barenboim als Pianist und Dirigent, der chinesische Pianist Lang Lang und der russische Pianist Jewgeny Kissin, der als Zwölfjähriger mit seiner Einspielung der zwei Klavierkonzerte Chopins für Furore sorgte. In jüngerer Zeit ist mit Alma Deutscher ein Wunderkind als Pianistin, Geigerin und Komponistin aufgetaucht.
Es gibt viele Wunderkinder, aber kaum Wundermänner. Nur wenigen gelingt es wie Jewgeny Kissin, ihr Talent ins Erwachsenenalter hinüberzuretten. Der Preis dafür liegt jenseits aller Wunderfähigkeit: in harter Arbeit. Und wen interessieren schon alt gewordene Wunderkinder? Es sei denn, sie spielen – wie weiland Nathan Milstein – mit fast 90 Jahren noch fehlerfrei Johann Sebastian Bachs Solosonaten für Violine.
Um Wunderfrauen war’s bisher noch schlechter bestellt. Eine war Fanny Mendelssohn, die Schwester von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sie hätte es fast geschafft, in der Männerwelt zu reüssieren, auch Clara Schumann war nahe dran. Oder die japanische Geigerin Midori: Sie gab ihr erstes Konzert mit elf Jahren unter Zubin Mehta mit den New Yorker Philharmonikern, danach wäre sie fast am Druck des Perfekt-sein-Müssens zerbrochen. Mit psychologischem Training kam sie über die Runden. Heute tritt sie in kleinem Rahmen wieder auf.
Wo verläuft die Grenze zwischen einem wenig redseligen normalen jungen Künstler und einem Wunderkind? Beide könnte man als „altklug“oder „frühreif“bezeichnen. Beide müssen hart arbeiten, um an der Spitze zu bleiben. Im Regelfall ist es eine Sache der Zuschreibung oder, wenn man so will, des Marketings. Wenn einer oder eine nicht aufgibt und zur Begabung die harte tägliche Arbeit kommt, wird aus ihm oder ihr irgendwann ein Künstler, der die Erwachsenenbühne betreten muss. Der Preis für die frühe Bewunderung ist der Verzicht auf das, was man eine „normale“Kindheit zu nennen pflegt.