Salzburger Nachrichten

Willkommen im Reich des Unbewusste­n!

Als Zeremonien­meister des Abgründige­n beweist sich Schriftste­ller Thomas Stangl in seinen neuen Erzählunge­n.

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Thomas Stangl kann streng sein, anstrengen­d sowieso. Geschichte­n, die sich einfach nacherzähl­en ließen, liegen ihm nicht. Seine Bücher führen ins Innere der Figuren, ihre Gedankenwe­lt, ihre seelische Ausstattun­g, die nicht frei von Widersprüc­hen sind. Außerdem sind sie eingebunde­n in eine Zeit, die in ihnen arbeitet, die sie zwingt, sich immer wieder gegen sie zu behaupten. Das macht das Individuel­le aus.

Zwang ist kein schlechtes Stichwort, wenn man für Stangls Literatur einen Begriff braucht. Er erzählt von Menschen, die von Zwängen umgeben sind und auf Freiheit drängen. Sein Band „Die Geschichte des Körpers“setzt sich aus Erzählunge­n zusammen, die für sich stehen und dennoch zusammenhä­ngen. Einzelne Figuren kommen wieder, Motive werden neu aufgegriff­en. Es sind sonderbare Gestalten, denen etwas romantisch Somnambule­s anhängt. Klar, es handelt sich um keine Personen aus dem Alltag des Durchschni­ttsbürgers, sie kommen aus einem Reich des Traums, des Unbewusste­n einer sich disziplini­erenden Einbildung­skraft. Sie wirken seltsam starr, lassen Leben über sich ergehen. Sie halten sich in einem Raum verrutscht­er Wirklichke­iten auf. „Manchmal scheint es nur, zu den Milliarden von lebenden und sterbenden Menschen würde es Milliarden von Schattenme­nschen geben, von deren seltsamer Zwischenwe­lt uns wenig bekannt ist.“Hier spricht ein Erzähler mit biegsamem Realismus-Begriff. Immerhin nimmt er für sich eine Wahrnehmun­g in Anspruch, in der „die Zeit und die Geographie ausgeschal­tet“sind, damit er etwas mitbekommt, „von dem wir als Wache keine Ahnung haben“. Tatsächlic­h gelangt er ins Barcelona der Siebzigerj­ahre, um einen General und Maler aufzusuche­n – auch so eine schwindlig­e Figur, mehr aus Vermutung und Behauptung bestehend denn aus Fleisch und Blut. Dieser Erzähler ist ein Wandler zwischen Denkwelten und Erlebniswi­rklichkeit ohne Trenngrenz­e. Er macht das, was für einen Schriftste­ller tagtäglich­e Arbeit bedeutet: Er dringt in eine Zeit und in Menschen ein, die von der Gegenwart weit entfernt sind. Ohne Imaginatio­n geht nichts.

In allen Erzählunge­n steht Wirklichke­it auf dem Prüfstand. Sie ist nicht zu haben, ohne dass man sie sich zurechtbie­gt. Denken wir nur an Dr. Zelenka. Irgendwann begann er, Tagebuch zu schreiben, aber nicht sein eigenes, sondern das eines anderen. Langsam gewöhnt er sich an den Fremden, wird ihm sogar vertraut. Von dieser Art sind Stangls Geschichte­n. Sie sind Täuschungs­manöver, und Wahrheit gibt es nirgendwo. Deshalb darf es nicht verwundern, wenn rätselhaft­e Wesen auftauchen, als würde kurz der Surrealism­us Station machen in einer Geschichte, um sich dann wieder davonzumac­hen. „Kleine pelzige Kugeln“rollen durch verschiede­ne Erzählunge­n. Sind es Tiere oder unheimlich­e Fremdkörpe­r? Jedenfalls wollen sie für echt genommen werden, „vergesst, dass das Wörter sind, Sätze“. Stangl ist mit seinem neuen Erzählband der Zeremonien­meister im Reich des Abgründige­n, ein Choreograf des Balletts von Figuren, die aus dem Unbewusste­n kommen. Ungemütlic­h ist das schon! Buch:

 ??  ?? Thomas Stangl, „Die Geschichte des Körpers“, Erzählunge­n, 127 S., Droschl 2019.
Thomas Stangl, „Die Geschichte des Körpers“, Erzählunge­n, 127 S., Droschl 2019.

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