Die Sehnsucht nach Einfachheit kann trügen
Werden Widersprüche und Mehrdeutigkeiten gemieden, drohen Beleidigungen und Populismus.
Ein Zornausbruch über die Absage einer Sängerin – wie von Anna Netrebko bei „Adriana Lecouvreur“in Salzburg – könne einfach bloß Ausdruck von Frustration sein. Doch sei eine Reaktion in lauten Buhrufen auch Symptom für Mangel an Ambiguitätstoleranz, stellte der Islamwissenschafter Thomas Bauer am Donnerstag in der Podiumsdiskussion bei den Salzburger Hochschulwochen fest.
„Ambiguitätstoleranz“steht für die Fähigkeit, Widersprüche, Ungewissheit, Mehrdeutigkeit und die Gleichzeitigkeit von guten wie schlechten Aspekten zu ertragen oder sogar als bereichernd zu empfinden. Diese Fähigkeit sei weltweit im Schwinden, stellte Thomas Bauer im Vortrag am Mittwoch fest. Dies wirke auf Politik, Alltag, Religion und Kunst.
In der Politik kann der Mangel an Ambiguitätstoleranz zu vereinfachendem Populismus führen. Unnachgiebiges Beharren auf Wahrheit und die Überzeugung, dass es nur eine Wahrheit gebe, sei mit Demokratie schwer vereinbar, warnte Thomas Bauer. Ohne Kompromiss – folglich ohne Nachgeben – sei keine demokratische Politik möglich.
Im Alltag kommt infolge von Ambiguitätsintoleranz zum Beispiel die Höflichkeit abhanden. Diese beinhalte ja „ein bisschen Falschheit“, schilderte Thomas Bauer. Doch mittlerweile würden Unhöflichkeit, Beleidigung oder andere Verstöße gegen soziale Normen hingenommen, wenn diese bloß authentisch wirkten. Andrerseits: Wenn jemand nicht die gängige Meinung vertrete und etwa die MeToo-Bewegung kritisiere, drohe ihm ein Shitstorm.
Bei abnehmender Ambiguitätstoleranz verliere die Kunst ihre gesellschaftliche Bedeutung, schilderte Thomas Bauer. Kunst sei typischerweise nicht eindeutig, unterschiedliche Rezeptionen seien sogar gewollt. Kunst sei bedeutungsoffen. Doch berge endlose Vieldeutigkeit auch die Gefahr, dass dies ein Gefühl von Bedeutungslosigkeit und Gleichgültigkeit auslöse.
Ähnlich problematisch werden bei schwindender Ambiguitätstoleranz Begriffe wie Ästhetik und Schönheit, was sich im Stadtbild auswirkt. Eine Behörde könne einen Bau nur wegen falscher Traufenhöhe verhindern, doch nicht wegen Hässlichkeit, sagte Thomas Bauer. Und weil Schönheit nicht eindeutig zu definieren sei, „nehmen wir hin, was halt hässlich ist“.
Am Beispiel seines Fachgebiets, des Islam, schilderte Thomas Bauer Auswirkungen auf die Religion: Habe etwa im 15. Jahrhundert ein islamischer Gelehrter noch die Meinungsverschiedenheit als Gnade in seiner Gemeinde bezeichnet, so habe sich im 19. Jahrhundert die Ansicht durchgesetzt, Meinungsverschiedenheiten beruhten auf Unkenntnis und Fehlern; denn für jedes Problem gebe es nur eine Lösung. Oder: Der Gelehrte Ibn al-Dschazarī habe im 14. Jahrhundert den Koran noch als „gewaltiges Meer“bezeichnet, in dem man „nie auf Grund stößt“, doch beharrten heutige Kommentatoren des Korans darauf: Es gebe nur eine Bedeutung, Gott spreche nicht mehrdeutig.
Auch für das Christentum und für andere Bereiche sieht Thomas Bauer im 19. Jahrhundert einen Wendepunkt weg von Ambiguitätstoleranz.
Gibt es Heilmittel? Thomas Bauer nennt als eine Möglichkeit die Kunst: Wer Musik hört, Poesie liest und Kunstfotografie betrachtet, setzt sich Uneindeutigem aus. Und er empfiehlt, ab und zu weniger auf Effizienz und mehr auf Kreativität zu achten.
„Widersprüchlichkeit kann man auch als bereichernd empfinden.“Thomas Bauer, Islamwissenschafter