AGGRESSIV
Berichte über offen ausgetragene Aggression am Arbeitsplatz, in Geschäften, im Verkehr oder Touristen gegenüber häufen sich. Mehr als nur Momentaufnahmen? Der Bestsellerautor und Psychiater Manfred Stelzig erklärt einige der Ursachen.
Offen ausgetragene Aggressionen häufen sich. Alles nur Momentaufnahmen? Ein Bestsellerautor klärt die Ursachen.
Zuletzt waren es die Handelsangestellten, die laut aufgeschrien haben, weil sie vermehrt von Kunden attackiert werden. So hat man einer Verkäuferin zum Beispiel die Käsekostprobe auf die Füße gespuckt. Wurst fliegt über die Theke zurück, weil die Verkäufer aus hygienischen Gründen nun wieder keine Gummihandschuhe tragen. Was sind die Gründe dafür, wenn Menschen ihre Aggressionen immer weniger unter Kontrolle haben? Die SN sprachen mit dem Bestsellerautor, Psychiater und Psychotherapeuten Manfred Stelzig. Seine erfolgreichsten Bücher sind „Keine Angst vor dem Glück“, „Was die Seele glücklich macht“und „Warum wir vertrauen können: Das psychische Urprogramm des Menschen“.
SN: Haben wir uns schwerer unter Kontrolle, weil wir zunehmend überfordert, überlastet, überreizt sind? Oder brechen auch moralische Dämme?
Es ist beides, es ist ein bunter Mix. Natürlich steigt die tägliche Anforderung an uns. Wenn wir jetzt im Sommer durch die Stadt fahren und wir stecken im Stau, lässt das niemanden kalt. Dann kommen vielleicht noch die Hitze, private und familiäre Sorgen dazu. Das ist ein Mix an Belastungen, der schlecht verkraftbar ist.
Aber auf der anderen Seite ist es auch eine Form der Ich-AG, eines Egoismus und einer Überhöhung der persönlichen Sicht und Wertigkeit, aus der ein Verhalten gespeist wird. Das hat es früher in dieser Summe nicht gegeben. Da muss man gegensteuern.
SN: Hat das auch mit einem Werteverlust zu tun?
Natürlich, „Ich zuerst“, „Amerika zuerst“ist natürlich auch eine große politische Strömung. Also das Sich-aufeinander-Abstimmen und In-Resonanz-Gehen und Wahrnehmen, das tritt in den Hintergrund.
SN: Wie erklären Sie sich das?
Einerseits erleben wir einen Druck in der Arbeitswelt, aber auf der anderen Seite sprechen wir auch von Freizeitstress. Wir verlangen uns auch in der Freizeit immer mehr ab. Das Leben zu genießen und sich in seiner Haut wohlzufühlen tritt zurück im Verhältnis zu dem, was ich alles noch erreichen, leisten und aus mir herausquetschen muss.
SN: Also auch einmal runter vom Gas?!
Für mich ist die Achtsamkeit ein wesentlicher Punkt. Und Achtsamkeit bezieht sich immer auf den anderen. Ihn wahrnehmen, sich auf ihn einstellen, den anderen erspüren in jeder Form. Und das Wollen des anderen in das eigene Handeln miteinbeziehen.
Auf der anderen Seite geht es auch um Achtsamkeit sich selbst gegenüber. In der Psychotherapie sprechen wir zum Beispiel von einer inneren und einer äußeren Bühne: Die äußere Bühne ist oft nicht so, wie wir sie uns wünschen. Wir gehen mit einem Sollprinzip durchs Leben. Wie soll ein durchschnittlicher Tag ausschauen? Oft ist das in einer Form anders, dass man auf der inneren Bühne wieder Gegenregulationen finden muss.
SN: Wie können die ausschauen?
Wir kennen den inneren Wohlfühlort, den Seelengarten. Man kann sich auch verwöhnen, indem man sich nicht nur dem Stau aussetzt, sondern sich davor schon wappnet, indem man eine Lieblings-CD dabeihat. Oder ich beschäftige mich gedanklich mit Dingen, die schön sind, die schön waren, die mir wichtig sind. Ich plane den nächsten Urlaub. Ich versuche also, die Zeit im Stau sinnvoll zu nutzen.
SN: Die Digitalisierung vieler Lebensbereiche verändert vieles. Das macht unsicher. Können aus Ängsten heraus auch Aggressionen entstehen?
Angst und Aggression hängen immer zusammen. Man sagt ja auch, der Hund, der ängstlich ist, beißt. Beim Menschen ist es ein bisschen ähnlich. Es ist eine psychische Überforderung, auf die ich unterschiedlich reagieren kann. Ich kann mit Rückzug, Depression, mit Lähmung und Erschöpftheit darauf reagieren. Oder ich kann extrovertiert mit Gereiztheit reagieren und diese Überforderung so abreagieren.
SN: Wie begegnet man solchen Ängsten am besten?
Für mein Gefühl geht es dabei sehr stark um Werte, um humanistische Werte. Glück hängt sehr viel mit gelungenen, positiven, liebevollen Beziehungen zusammen.
Da gibt es in meinem Denken ein Seelenhaus. Dort, an der Basis, stehen Verbundenheit, Urvertrauen, Schutz, Geborgenheit, Wärme. Das ist das große Fundament im Leben. Ohne das kann man nicht glücklich werden. Und dieses zutiefst sichere Gefühl muss jeder in sich spüren. Am Anfang wird es natürlich von Mutter, Vater oder den Geschwistern und Verwandten gelegt.
Weiter geht es um Zugehörigkeitsgefühl. Es geht darum, gefördert zu werden, gemeinsam zu spielen und die Welt zu erkunden. Es ist eine wesentliche Aufgabe von Vater und Mutter, mit den Kleinstzwergen die Welt zu erobern und zu entdecken, dass der Kleinstzwerg möglichst wenig Ängste entwickelt und sich sicher fühlt, wenn er zum Beispiel in den Keller geht. Jetzt wird uns aber über verschiedene Kanäle etwas anderes vorgegaukelt, wie das Sich-durchsetzen-Können. Oder in aggressiven Videospielen – da sind andere Werte wichtiger: sich über den anderen hinwegsetzen, eigene Emotionen ausleben und gewinnen zu können, wenn man den anderen vernichtet. Da muss jeder für sich sehr genau hinterfragen, ob das gut ist und wie weit das in Konkurrenz steht mit der ursprünglichen Sehnsucht, die jeder in sich trägt.
SN: Können aggressive Videos und Videospiele Gewalt auslösen?
Natürlich. Man muss das sehr kritisch sehen und benennen. Ich glaube, dass durch Gewaltvideos Schranken in uns abgebaut werden, die wir durch die Erziehung mitbekommen haben. Ich bin gegen ein Verbot, weil Verbote immer die prinzipielle Entscheidungsfreiheit des Menschen einschränken. Aber ich bin sehr dafür, dass jeder für sich schaut, ob das einem guttut. Durch diese aggressiven Spiele findet der Mensch in einer anderen Form Orientierung, die ich für sehr problematisch halte.
SN: Noch mehr Ellbogen, als die Gesellschaft schon vorlebt?
Ja, noch mehr Ellbogen.
SN: Was raten Sie Eltern im Umgang mit Videospielen?
Ganz wichtig ist, dass Eltern so an der Seite ihres Kindes stehen, dass das Kind in der Mutter und im Vater eine Vertrauensperson findet. So gesehen ist es nicht gut, Gewaltspiele und Gewaltvideos nur zu verbieten. Die Eltern sollten sich vielmehr dafür interessieren und fragen: Was schaust du dir da an? Das interessiert mich, lass mich mitschauen oder sogar mitspielen, um dann auch darüber diskutieren zu können, ob der Inhalt wirklich sinnvoll ist. Oder wie negativ berührt die Mutter oder der Vater ist. Damit das Kind sieht: Aha, das muss ich vielleicht doch auch von einer anderen Seite sehen.
SN: Sie haben auch Zusammengehörigkeit angesprochen. Politologen und Soziologen betonen, dass die Gesellschaft heute stark polarisiert ist. Das hat auch mit bestimmten Politikertypen zu tun, die mehr spalten als zusammenführen. Welche Rolle spielt das beim Entstehen von Aggressionen?
Wir spüren alle, dass es jetzt um Polarisierung geht. Polarisierung heißt immer, dass der Aggressionsspiegel steigt. Warum? Es gibt Gut und Böse, es gibt nicht dieses Miteinander. Was ist der richtige Weg, wie finden wir eine Problemlösung? Es wird hingegen die eine Bevölkerungsgruppe gegen die andere aufgestachelt und umgekehrt. Das erzeugt natürlich eine höhere Aggressionsbereitschaft.
Das Problem an der sozusagen alten Politik ist, dass sie zum einen nicht gelernt hat, die Problemlösung zu verkaufen. Das wird als selbstverständlich hingenommen. Zum anderen werden bestimmte Themen nicht zur Zufriedenheit der Bevölkerung gelöst, wie das Migrationsproblem. Joachim Bauer spricht von einem Fairnessmessfühler: Jeder hat einen inneren Gradmesser oder eine innere, unbewusste Idee, wie man das Problem lösen könnte. Weil das aber nicht passiert, entsteht eine Migrationsfeindlichkeit. Und diese Migrationsfeindlichkeit wird wieder vermischt mit einer Feindlichkeit dem Humanismus gegenüber, im Sinne von „diese Sozialträumer und diese völlig unrealistischen Menschen“.
Doch darum geht es nicht: Es geht darum, Probleme anzuschauen, sich zusammenzusetzen und Lösungen zu finden. Mit gemeinsamen Lösungen wird auch die Polarisierung wieder abnehmen.
SN: Diese Polarisierung tritt auch in den sozialen Medien zutage. Dort wird aufgehetzt und Frust in einer Art abgeladen, die in tiefe Abgründe der menschlichen Seele blicken lässt. Kann dieses Frustabladen auch Ventil sein oder schaukelt sich so alles noch mehr hoch?
Beides. Wenn jemand in einer konstruktiven Weise Aggression äußert, braucht es einen relativ stabilen psychischen Apparat. Wenn Menschen Aggressionen loslassen, die nicht so stabil sind, kann das zu einem fürchterlichen Bumerang werden. Erstens entstehen Gegenaggressionen. Mobbing im Netz kann zum Suizid führen. Auf der anderen Seite entspricht aggressives Frustabladen nicht dem Sehnsuchtsprinzip. Diese Leute beruhigen sich nicht dadurch. Sie sind noch mehr aufgewühlt, können nicht schlafen, sind unangenehm erregt, haben vielleicht Selbstvorwürfe, weil das nicht dem ursprünglichen Konzept der Begegnung, Wahrnehmung und Problemlösung entspricht.
Wenn wir die Stresswaage hernehmen, sind auf der einen Seite unangenehme Erlebnisse. Und auf der anderen Seite ist all das, was Leben lebenswert und schön macht. Um diese Dinge geht es, tagtäglich, Minute für Minute, dass man sie für sich selbst spürbar macht. Was macht für mich das Leben wunderbar, lebenswert und lebendig? Das muss jeder schnell abrufbar haben. Dann kann man sich auch besser selbst regulieren und muss die Aggression nicht nach außen lassen.
„Polarisierung erzeugt Aggressionen.“Manfred Stelzig, Psychiater, Autor