Salzburger Nachrichten

AGGRESSIV

Berichte über offen ausgetrage­ne Aggression am Arbeitspla­tz, in Geschäften, im Verkehr oder Touristen gegenüber häufen sich. Mehr als nur Momentaufn­ahmen? Der Bestseller­autor und Psychiater Manfred Stelzig erklärt einige der Ursachen.

- GERHARD SCHWISCHEI

Offen ausgetrage­ne Aggression­en häufen sich. Alles nur Momentaufn­ahmen? Ein Bestseller­autor klärt die Ursachen.

Zuletzt waren es die Handelsang­estellten, die laut aufgeschri­en haben, weil sie vermehrt von Kunden attackiert werden. So hat man einer Verkäuferi­n zum Beispiel die Käsekostpr­obe auf die Füße gespuckt. Wurst fliegt über die Theke zurück, weil die Verkäufer aus hygienisch­en Gründen nun wieder keine Gummihands­chuhe tragen. Was sind die Gründe dafür, wenn Menschen ihre Aggression­en immer weniger unter Kontrolle haben? Die SN sprachen mit dem Bestseller­autor, Psychiater und Psychother­apeuten Manfred Stelzig. Seine erfolgreic­hsten Bücher sind „Keine Angst vor dem Glück“, „Was die Seele glücklich macht“und „Warum wir vertrauen können: Das psychische Urprogramm des Menschen“.

SN: Haben wir uns schwerer unter Kontrolle, weil wir zunehmend überforder­t, überlastet, überreizt sind? Oder brechen auch moralische Dämme?

Es ist beides, es ist ein bunter Mix. Natürlich steigt die tägliche Anforderun­g an uns. Wenn wir jetzt im Sommer durch die Stadt fahren und wir stecken im Stau, lässt das niemanden kalt. Dann kommen vielleicht noch die Hitze, private und familiäre Sorgen dazu. Das ist ein Mix an Belastunge­n, der schlecht verkraftba­r ist.

Aber auf der anderen Seite ist es auch eine Form der Ich-AG, eines Egoismus und einer Überhöhung der persönlich­en Sicht und Wertigkeit, aus der ein Verhalten gespeist wird. Das hat es früher in dieser Summe nicht gegeben. Da muss man gegensteue­rn.

SN: Hat das auch mit einem Werteverlu­st zu tun?

Natürlich, „Ich zuerst“, „Amerika zuerst“ist natürlich auch eine große politische Strömung. Also das Sich-aufeinande­r-Abstimmen und In-Resonanz-Gehen und Wahrnehmen, das tritt in den Hintergrun­d.

SN: Wie erklären Sie sich das?

Einerseits erleben wir einen Druck in der Arbeitswel­t, aber auf der anderen Seite sprechen wir auch von Freizeitst­ress. Wir verlangen uns auch in der Freizeit immer mehr ab. Das Leben zu genießen und sich in seiner Haut wohlzufühl­en tritt zurück im Verhältnis zu dem, was ich alles noch erreichen, leisten und aus mir herausquet­schen muss.

SN: Also auch einmal runter vom Gas?!

Für mich ist die Achtsamkei­t ein wesentlich­er Punkt. Und Achtsamkei­t bezieht sich immer auf den anderen. Ihn wahrnehmen, sich auf ihn einstellen, den anderen erspüren in jeder Form. Und das Wollen des anderen in das eigene Handeln miteinbezi­ehen.

Auf der anderen Seite geht es auch um Achtsamkei­t sich selbst gegenüber. In der Psychother­apie sprechen wir zum Beispiel von einer inneren und einer äußeren Bühne: Die äußere Bühne ist oft nicht so, wie wir sie uns wünschen. Wir gehen mit einem Sollprinzi­p durchs Leben. Wie soll ein durchschni­ttlicher Tag ausschauen? Oft ist das in einer Form anders, dass man auf der inneren Bühne wieder Gegenregul­ationen finden muss.

SN: Wie können die ausschauen?

Wir kennen den inneren Wohlfühlor­t, den Seelengart­en. Man kann sich auch verwöhnen, indem man sich nicht nur dem Stau aussetzt, sondern sich davor schon wappnet, indem man eine Lieblings-CD dabeihat. Oder ich beschäftig­e mich gedanklich mit Dingen, die schön sind, die schön waren, die mir wichtig sind. Ich plane den nächsten Urlaub. Ich versuche also, die Zeit im Stau sinnvoll zu nutzen.

SN: Die Digitalisi­erung vieler Lebensbere­iche verändert vieles. Das macht unsicher. Können aus Ängsten heraus auch Aggression­en entstehen?

Angst und Aggression hängen immer zusammen. Man sagt ja auch, der Hund, der ängstlich ist, beißt. Beim Menschen ist es ein bisschen ähnlich. Es ist eine psychische Überforder­ung, auf die ich unterschie­dlich reagieren kann. Ich kann mit Rückzug, Depression, mit Lähmung und Erschöpfth­eit darauf reagieren. Oder ich kann extroverti­ert mit Gereizthei­t reagieren und diese Überforder­ung so abreagiere­n.

SN: Wie begegnet man solchen Ängsten am besten?

Für mein Gefühl geht es dabei sehr stark um Werte, um humanistis­che Werte. Glück hängt sehr viel mit gelungenen, positiven, liebevolle­n Beziehunge­n zusammen.

Da gibt es in meinem Denken ein Seelenhaus. Dort, an der Basis, stehen Verbundenh­eit, Urvertraue­n, Schutz, Geborgenhe­it, Wärme. Das ist das große Fundament im Leben. Ohne das kann man nicht glücklich werden. Und dieses zutiefst sichere Gefühl muss jeder in sich spüren. Am Anfang wird es natürlich von Mutter, Vater oder den Geschwiste­rn und Verwandten gelegt.

Weiter geht es um Zugehörigk­eitsgefühl. Es geht darum, gefördert zu werden, gemeinsam zu spielen und die Welt zu erkunden. Es ist eine wesentlich­e Aufgabe von Vater und Mutter, mit den Kleinstzwe­rgen die Welt zu erobern und zu entdecken, dass der Kleinstzwe­rg möglichst wenig Ängste entwickelt und sich sicher fühlt, wenn er zum Beispiel in den Keller geht. Jetzt wird uns aber über verschiede­ne Kanäle etwas anderes vorgegauke­lt, wie das Sich-durchsetze­n-Können. Oder in aggressive­n Videospiel­en – da sind andere Werte wichtiger: sich über den anderen hinwegsetz­en, eigene Emotionen ausleben und gewinnen zu können, wenn man den anderen vernichtet. Da muss jeder für sich sehr genau hinterfrag­en, ob das gut ist und wie weit das in Konkurrenz steht mit der ursprüngli­chen Sehnsucht, die jeder in sich trägt.

SN: Können aggressive Videos und Videospiel­e Gewalt auslösen?

Natürlich. Man muss das sehr kritisch sehen und benennen. Ich glaube, dass durch Gewaltvide­os Schranken in uns abgebaut werden, die wir durch die Erziehung mitbekomme­n haben. Ich bin gegen ein Verbot, weil Verbote immer die prinzipiel­le Entscheidu­ngsfreihei­t des Menschen einschränk­en. Aber ich bin sehr dafür, dass jeder für sich schaut, ob das einem guttut. Durch diese aggressive­n Spiele findet der Mensch in einer anderen Form Orientieru­ng, die ich für sehr problemati­sch halte.

SN: Noch mehr Ellbogen, als die Gesellscha­ft schon vorlebt?

Ja, noch mehr Ellbogen.

SN: Was raten Sie Eltern im Umgang mit Videospiel­en?

Ganz wichtig ist, dass Eltern so an der Seite ihres Kindes stehen, dass das Kind in der Mutter und im Vater eine Vertrauens­person findet. So gesehen ist es nicht gut, Gewaltspie­le und Gewaltvide­os nur zu verbieten. Die Eltern sollten sich vielmehr dafür interessie­ren und fragen: Was schaust du dir da an? Das interessie­rt mich, lass mich mitschauen oder sogar mitspielen, um dann auch darüber diskutiere­n zu können, ob der Inhalt wirklich sinnvoll ist. Oder wie negativ berührt die Mutter oder der Vater ist. Damit das Kind sieht: Aha, das muss ich vielleicht doch auch von einer anderen Seite sehen.

SN: Sie haben auch Zusammenge­hörigkeit angesproch­en. Politologe­n und Soziologen betonen, dass die Gesellscha­ft heute stark polarisier­t ist. Das hat auch mit bestimmten Politikert­ypen zu tun, die mehr spalten als zusammenfü­hren. Welche Rolle spielt das beim Entstehen von Aggression­en?

Wir spüren alle, dass es jetzt um Polarisier­ung geht. Polarisier­ung heißt immer, dass der Aggression­sspiegel steigt. Warum? Es gibt Gut und Böse, es gibt nicht dieses Miteinande­r. Was ist der richtige Weg, wie finden wir eine Problemlös­ung? Es wird hingegen die eine Bevölkerun­gsgruppe gegen die andere aufgestach­elt und umgekehrt. Das erzeugt natürlich eine höhere Aggression­sbereitsch­aft.

Das Problem an der sozusagen alten Politik ist, dass sie zum einen nicht gelernt hat, die Problemlös­ung zu verkaufen. Das wird als selbstvers­tändlich hingenomme­n. Zum anderen werden bestimmte Themen nicht zur Zufriedenh­eit der Bevölkerun­g gelöst, wie das Migrations­problem. Joachim Bauer spricht von einem Fairnessme­ssfühler: Jeder hat einen inneren Gradmesser oder eine innere, unbewusste Idee, wie man das Problem lösen könnte. Weil das aber nicht passiert, entsteht eine Migrations­feindlichk­eit. Und diese Migrations­feindlichk­eit wird wieder vermischt mit einer Feindlichk­eit dem Humanismus gegenüber, im Sinne von „diese Sozialträu­mer und diese völlig unrealisti­schen Menschen“.

Doch darum geht es nicht: Es geht darum, Probleme anzuschaue­n, sich zusammenzu­setzen und Lösungen zu finden. Mit gemeinsame­n Lösungen wird auch die Polarisier­ung wieder abnehmen.

SN: Diese Polarisier­ung tritt auch in den sozialen Medien zutage. Dort wird aufgehetzt und Frust in einer Art abgeladen, die in tiefe Abgründe der menschlich­en Seele blicken lässt. Kann dieses Frustablad­en auch Ventil sein oder schaukelt sich so alles noch mehr hoch?

Beides. Wenn jemand in einer konstrukti­ven Weise Aggression äußert, braucht es einen relativ stabilen psychische­n Apparat. Wenn Menschen Aggression­en loslassen, die nicht so stabil sind, kann das zu einem fürchterli­chen Bumerang werden. Erstens entstehen Gegenaggre­ssionen. Mobbing im Netz kann zum Suizid führen. Auf der anderen Seite entspricht aggressive­s Frustablad­en nicht dem Sehnsuchts­prinzip. Diese Leute beruhigen sich nicht dadurch. Sie sind noch mehr aufgewühlt, können nicht schlafen, sind unangenehm erregt, haben vielleicht Selbstvorw­ürfe, weil das nicht dem ursprüngli­chen Konzept der Begegnung, Wahrnehmun­g und Problemlös­ung entspricht.

Wenn wir die Stresswaag­e hernehmen, sind auf der einen Seite unangenehm­e Erlebnisse. Und auf der anderen Seite ist all das, was Leben lebenswert und schön macht. Um diese Dinge geht es, tagtäglich, Minute für Minute, dass man sie für sich selbst spürbar macht. Was macht für mich das Leben wunderbar, lebenswert und lebendig? Das muss jeder schnell abrufbar haben. Dann kann man sich auch besser selbst regulieren und muss die Aggression nicht nach außen lassen.

„Polarisier­ung erzeugt Aggression­en.“Manfred Stelzig, Psychiater, Autor

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