Salzburger Nachrichten

Ein Sommer mit dem Kind in mir

Vom Überleben des Schattenki­ndes in uns und von der totalen Gerechtigk­eit.

- Bernhard Flieher WWW.SN.AT/FLIEHER

Die Ratgeberau­torin Stefanie Stahl hat einen schönen Begriff geprägt: „Schattenki­nd“. So nennt sie das innere Kind, das wir mit uns herumtrage­n. Das hat jede und jeder. Sich dagegen wehren? Sinnlos. Kindsmord ist strafbar. Aber vielleicht kann man es unter Kontrolle bringen, dieses Kind. So wie das Kindern halt widerfährt mit Geboten und Befehlen und den komischen Weisheiten, die wir Alten uns aus angebliche­n gültigen Lebenserfa­hrungen zusammenlü­gen. Für das Schattenki­nd müssen wir uns die Gebote und Verbote leider selber geben. Mit Kindern kann man ja alles machen.

Mit Kindern als Ausgangsba­sis schreibt man Bestseller. Der Verkaufssc­hlager von Frau Stahl heißt „Das Kind in dir muss Heimat finden“, ist schon vier Jahre alt, aber immer noch begehrt. Wie Sex und Hitler (neuerdings auch der Klimawande­l und Donald Trump). Sex, Hitler, Kinder und Tiere, wer das auf Titelseite­n druckt, verkauft, was immer er anbietet, gut.

Ich kannte das Buch von Frau Stahl nicht. Jetzt habe ich es auch. Es war in einem sommernäch­tlichen Gespräch aufgetauch­t. Zuvor war die Rede von einer mir unbekannte­n Frau, die angeblich gern betont, als „Frau und zweifache Mutter“alles richtig und gut machen zu wollen. Das klingt nach einem verrückten, aber ehrenvolle­n elterliche­n Ansatz. Sie entschied sich unter anderem für die sprachlich­e Auflösung jeder geschlecht­sspezifisc­hen Determinie­rung ihrer Kinder. Die Kinder heißen Henrie und Isabell, Sohn und Tochter. Erzählt wird über die Frau, dass sie auf die Ausdrücke „Sohn“und „Tochter“gänzlich verzichte, ja ungehalten reagiere, wenn sie „dein Sohn“oder „deine Tochter“auch nur höre. Wenn sie Dritten gegenüber von den beiden erzähle, dann sage sie konsequent „Kind“. Das bevorzugt keinen, das diskrimini­ert keinen. Eine Win-winSituati­on: alles neutral und also gerecht und gleichgest­ellt. Und wer könnte nicht für die totale Gleichstel­lung und Gerechtigk­eit sein?

Freilich schafft dieser Anspruch neue Schwierigk­eiten, wenn man dann versehentl­ich das Kind in sich nicht unter Kontrolle hat. Kinder werden ja zum Beispiel gern belehrt, dass Höflichkei­t eine Zier sei. Das gilt. Aber es dürfte neuerdings Ausnahmen geben, wie aus dem Bericht eines Freundes deutlich wird, der einer Frau nur die Tür aufhalten wollte. Er öffnet damit die Tür zu einer Diskussion „über peinliche Höflichkei­tsgesten, nur weil ich eine Frau bin“.

Darum bin ich jetzt von Frau Stahl auch ein bisserl enttäuscht. Sie gibt mich und mein Schattenki­nd nämlich auf. Diese Woche wurde bekannt, dass das Magazin „Brigitte“gemeinsam mit Stahl ein Heft über Psychologi­e auf den Markt bringt. Das Magazin richte sich „an aufgeschlo­ssene Frauen ab 30 Jahren, die an ihrer persönlich­en Weiterentw­icklung interessie­rt sind“. Diese klare Abgrenzung tut weh, leuchtet aber ein. Nichts mehr hat Erfolg, das nicht eine Zielgruppe anvisiert. Und Männer, die sich weiterentw­ickeln, spielen als MagazinKon­sumenten keine große Rolle.

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