Ein Sommer mit dem Kind in mir
Vom Überleben des Schattenkindes in uns und von der totalen Gerechtigkeit.
Die Ratgeberautorin Stefanie Stahl hat einen schönen Begriff geprägt: „Schattenkind“. So nennt sie das innere Kind, das wir mit uns herumtragen. Das hat jede und jeder. Sich dagegen wehren? Sinnlos. Kindsmord ist strafbar. Aber vielleicht kann man es unter Kontrolle bringen, dieses Kind. So wie das Kindern halt widerfährt mit Geboten und Befehlen und den komischen Weisheiten, die wir Alten uns aus angeblichen gültigen Lebenserfahrungen zusammenlügen. Für das Schattenkind müssen wir uns die Gebote und Verbote leider selber geben. Mit Kindern kann man ja alles machen.
Mit Kindern als Ausgangsbasis schreibt man Bestseller. Der Verkaufsschlager von Frau Stahl heißt „Das Kind in dir muss Heimat finden“, ist schon vier Jahre alt, aber immer noch begehrt. Wie Sex und Hitler (neuerdings auch der Klimawandel und Donald Trump). Sex, Hitler, Kinder und Tiere, wer das auf Titelseiten druckt, verkauft, was immer er anbietet, gut.
Ich kannte das Buch von Frau Stahl nicht. Jetzt habe ich es auch. Es war in einem sommernächtlichen Gespräch aufgetaucht. Zuvor war die Rede von einer mir unbekannten Frau, die angeblich gern betont, als „Frau und zweifache Mutter“alles richtig und gut machen zu wollen. Das klingt nach einem verrückten, aber ehrenvollen elterlichen Ansatz. Sie entschied sich unter anderem für die sprachliche Auflösung jeder geschlechtsspezifischen Determinierung ihrer Kinder. Die Kinder heißen Henrie und Isabell, Sohn und Tochter. Erzählt wird über die Frau, dass sie auf die Ausdrücke „Sohn“und „Tochter“gänzlich verzichte, ja ungehalten reagiere, wenn sie „dein Sohn“oder „deine Tochter“auch nur höre. Wenn sie Dritten gegenüber von den beiden erzähle, dann sage sie konsequent „Kind“. Das bevorzugt keinen, das diskriminiert keinen. Eine Win-winSituation: alles neutral und also gerecht und gleichgestellt. Und wer könnte nicht für die totale Gleichstellung und Gerechtigkeit sein?
Freilich schafft dieser Anspruch neue Schwierigkeiten, wenn man dann versehentlich das Kind in sich nicht unter Kontrolle hat. Kinder werden ja zum Beispiel gern belehrt, dass Höflichkeit eine Zier sei. Das gilt. Aber es dürfte neuerdings Ausnahmen geben, wie aus dem Bericht eines Freundes deutlich wird, der einer Frau nur die Tür aufhalten wollte. Er öffnet damit die Tür zu einer Diskussion „über peinliche Höflichkeitsgesten, nur weil ich eine Frau bin“.
Darum bin ich jetzt von Frau Stahl auch ein bisserl enttäuscht. Sie gibt mich und mein Schattenkind nämlich auf. Diese Woche wurde bekannt, dass das Magazin „Brigitte“gemeinsam mit Stahl ein Heft über Psychologie auf den Markt bringt. Das Magazin richte sich „an aufgeschlossene Frauen ab 30 Jahren, die an ihrer persönlichen Weiterentwicklung interessiert sind“. Diese klare Abgrenzung tut weh, leuchtet aber ein. Nichts mehr hat Erfolg, das nicht eine Zielgruppe anvisiert. Und Männer, die sich weiterentwickeln, spielen als MagazinKonsumenten keine große Rolle.