Die Welt-Stadt
Milliarden ziehen vom Land in die Stadt.
Im Jahr 2050 werden zwei Drittel der Menschen in Städten wohnen. Immer mehr Megacitys entstehen. Ist das schlecht? Muss man es aufhalten? Im Gegenteil, sagen Experten. Wir können nur überleben, wenn wir in Städten leben.
Die Menschheit steckt mitten in einer Veränderung, die unsere Gesellschaft und den ganzen Planeten betrifft. Sie begibt sich in Städte, und zwar immer rasanter. Während 1950 nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung in Städten wohnte, war es 2018 schon mehr als die Hälfte: Knapp vier Milliarden Menschen leben im urbanen Raum.
Bis 2050 könnten fast neun Milliarden Menschen eine Erde bevölkern – die wird dann an Ressourcenknappheit leiden und mitten im globalen Klimawandel stecken. Und: Unglaubliche zwei Drittel der Menschen werden dann in Städten leben. Das Tempo dieser Umschichtung und Verdichtung ist historisch ohne Beispiel. Und stellt alle Betroffenen auf eine harte Probe: Die Stadtbevölkerung nimmt jährlich um über 60 Millionen Menschen zu, das entspricht der Bevölkerung Italiens. Bereits 2018 existierten – inklusive Umland – weltweit mehr als 500 Millionenstädte.
Die meisten davon, Lebensraum für über 800 Millionen Menschen, liegen in den Entwicklungsländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Dort wächst die Bevölkerung schnell, und: Der Aufholbedarf nach städtischer Lebensweise ist am größten. Die „urbane Wende“der Dritten Welt hat ihre Gründe: soziale, psychologische und wirtschaftliche. Da gibt es auf dem Land oft Arbeitslosigkeit, Umweltprobleme, es geschehen Naturkatastrophen. Dafür locken die Städte mit der Hoffnung auf Arbeit, Wohlstand, Bildung oder einfach Anonymität. All das bewirkt in unserer Welt der rapiden Globalisierung, dass bis 2030 etwa zwei Milliarden Menschen in die Ballungsräume der Entwicklungsländer gezogen sein werden.
Doch wollen wir die globale Verstädterung, die Urbanisierung, überhaupt aufhalten? Die Antwort mag manche überraschen: wohl kaum. Denn es ist schlicht eine romantische Illusion, die wachsende Bevölkerung des Planeten Erde in überschaubaren ländlichen und dörflichen Gemeinschaften unterzubringen. Für künftige Generationen führt kein Weg an dichten Siedlungsmustern vorbei, um Raum und Ressourcen nicht zu überfordern.
Mehr noch: Die Entstehung von Riesenballungsräumen, sogenannten megaurbanen Regionen, betrifft uns alle. So werden dort rund 85 Prozent der menschlich verursachten Treibhausgase emittiert, deren Abwässer verschmutzen Grundwasser und Weltmeere. Und ihr Hunger nach Ressourcen heizt Raubbau aller Art auch in entlegenen Weltregionen an.
Und die Städte werden nicht aufhören zu wachsen. Wenngleich das Tempo der 1990er-Jahre nachgelassen hat und in Europa, Angloamerika und Lateinamerika eine Sättigung abzusehen ist: Wachstum kommt hier vor allem durch die große Kinderzahl der zugezogenen Migranten. Und weniger – wie in Afrika und Asien –, weil Menschen massenhaft vom Land aus zuwandern. Der gemeinsame Nenner weltweiter Verstädterung ist Doch wollen wir die Verstädterung überhaupt aufhalten? Wohl kaum. die massive Verdichtung – von Menschen, von sozialen Kontakten und Wissen. Aber auch von Ressourcen, Waren- und Kapitalströmen.
Die Abhängigkeit von Einzugsgebieten und Waren, Ressourcen, Energie, Arbeitskräften und Informationen bewirkt vielfach ein Zusammenwachsen von Megastädten. Deren sozioökonomischer und ökologischer „Fußabdruck“ist oft weit größer als das eigentliche Territorium: Städte nehmen weniger als zwei Prozent der Erdoberfläche ein, verbrauchen aber mehr als drei Viertel ihrer Ressourcen. „Unser Kampf um eine weltweite nachhaltige Entwicklung wird in den Städten gewonnen oder verloren“, ist sich der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, sicher.
Welche Entwicklung die Städte nehmen, hängt davon ab, wie ihr Wachstum geplant und gesteuert wird, heißt es im „World Cities Report“der Vereinten Nationen von 2016. Bei der UNO-Konferenz Habitat III im Oktober 2016 haben die Mitgliedsstaaten die sogenannte New Urban Agenda verabschiedet, mit der eine Zielsetzung für nachhaltige urbane Entwicklung formuliert wird.
In den meisten Forschungsdisziplinen werden Metropolen zumeist immer noch als Risikogebiete wahrgenommen, die mit Umweltverschmutzung, Ressourcenausbeutung, Wasserknappheit, Wirtschaftskrisen und ethnisch-religiösen Auseinandersetzungen kämpfen. Und wo sich die Frage stellt, wie Riesenstädte eigentlich funktionieren sollen, ohne Slums zu produzieren und Teilgesellschaften und Ghettos auszubilden. Megacitys enthalten, produzieren und verstärken Gefahrensysteme und sind daher Opfer und Täter zugleich.
Einerseits sind da die „reichen“Megacitys, Ballungsräume mit über zehn Millionen Menschen, die als Produktionszentren von der Globalisierung profitieren und als „Global Cities“zu Schaltzentralen der Weltwirtschaft werden. London, New York oder Tokio sind Beispiele. Dagegen gelten „arme“Megacitys als Absorptionsräume für arme Migranten. Der Trend zur „exclusive city“mit einer massiven Polarisierung zwischen Arm und Reich dominiert über das Konzept der humanen „inclusive city“, die für alle Bevölkerungsschichten lebenswert sein soll.
Wenn diese Städte stetig wachsen, so wachsen Probleme teils exponentiell – und Wirtschaftskraft, soziale Teilhabe und Umweltgedanke kommen unter die Räder. Verkehr und Müll sind nur zwei solcher Hauptprobleme. Je schneller die Stadt wächst, je stärker natürliche Verdichtung gegeben ist (z. B. Talkessel in Mexiko Stadt, Flussdeltas in Hanoi oder Kolkata), desto schwieriger wird nachhaltige Entwicklung; je korrupter und schwächer politische Institutionen sind (z. B. Dhaka) und je ärmer die Stadt ist (z. B. Lagos), desto „unmöglicher“wird sie.
Der Flächenverbrauch vieler Städte wächst heute doppelt so schnell wie ihre Bevölkerung, was bei einem Mangel an landwirtschaftlichen Flächen problematisch ist (z. B. Kairo). Wenn nur ein Bruchteil der Bevölkerung an Abwasserentsorgung angebunden ist (Slums in Mumbai: zwei
Städte nehmen weniger als zwei Prozent der Erdoberfläche ein, verbrauchen aber mehr als drei Viertel ihrer Ressourcen.
Prozent) oder industrieller Smog zum Alltag zählt (z. B. Peking), werden apokalyptische Bedenken zur Zukunft der Stadt, vor allem in Schwellenländern, zu einem Teil der Realpolitik.
Bei aller begründeten Skepsis zur Zukunft der Megacitys: Verdichtung und Verflechtung sind nicht hoffnungslos. Auch megaurbane Regionen wie New York oder London wurden nach Phasen ungeregelten Wachstums und drastischer sozialer und ökologischer Missstände wieder steuerbar. Und sie bieten heute (auch, aber nicht nur) attraktive Lebensräume.
Die Verfallsszenarien der 1970er-Jahre haben sich dort nicht bewahrheitet. Singapur und vor allem Tokio gelten heute sogar als Musterbeispiele für Megaurbanisierung, die aufgrund strenger Raumplanungskonzepte überhaupt ohne größere Krisenerscheinungen wachsen konnten. Und das, obwohl die japanische Hauptstadtregion sich binnen 60 Jahren verdreifacht hat; heute leben hier rund 30 Millionen Einwohner.
„Städte sind so komplex und unterschiedlich, dass es keine übertragbaren Rezepte für die Planung und das Management von Städten gibt“, folgert der Wissenschaftliche Beirat der deutschen Bundesregierung zu globalen Umweltveränderungen (WBGU). Die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten müssten berücksichtigt werden, um individuelle Lösungen für eine gute Zukunft zu finden. Und das geht auch nur, wenn sowohl die lokalen Entscheidungsträger als auch die Bewohner selbst dabei mitreden dürfen. Zudem müsse die Handlungskompetenz der Städte gefördert werden, so der WBGU. Freilich lässt sich das alles leicht fordern: mehr Parks und Erholungsräume, bessere Lebensqualität, erneuerbare Energien, Abkehr vom Benzinauto. Aber wenn es vielen Bewohnern einfach um das pure Überleben geht, kann die Umsetzung schon schwerer werden.
Das Potenzial der Metropolen wird übrigens weiterhin wenig thematisiert. Dicht bebaute Städte bewirken etwa: weniger Pro-Kopf-Flächenverbrauch, effizientere Ressourcennutzung, optimierte Transportsysteme, verbesserte Bildungsund Gesundheitsfürsorge und oft eine starke Innovationsdynamik. Viele Megastädte sind Wachstumsmotoren und unverzichtbare Zentren der Produktivität. Nach Berechnungen der OECD erwirtschaften z. B. Mexiko-Stadt und São Paulo rund 50 Prozent des landesweiten Einkommens von Mexiko und Brasilien. Auch Bangkok trägt mehr als 40 Prozent zum Bruttosozialprodukt der Thai bei, obwohl dort nur zehn Prozent der Menschen leben: In den großen Städten konzentrieren sich eben Personal und Kapital.
Hinzu kommen soziale Ressourcen wie gemeinnützige Einrichtungen und lokale Organisationen. Die Ballung der Bevölkerung in Megastädten bietet Chancen – zur effizienten Bereitstellung von Gütern und öffentlichen Dienstleistungen (z. B. Wasserversorgung, Müllentsorgung) mit vergleichsweise geringen Pro-Kopf-Kosten.
Ob „less developed“oder „emerging country“, die Begriffe mögen international umstritten und ideologisch besetzt sein: Doch stets liegen Lebenserwartung, Bildungsgrad und das Gesundheitsniveau der Stadtbevölkerung des „armen Südens“deutlich über Vergleichswerten aus dem ländlichen Umland. Wirtschaftliche Leistungen wiederum können schneller, effektiver und innovativer erbracht werden, was zu höherer Produktivität führt und – gerechte Verteilung vorausgesetzt – das Einkommen der Menschen in der Stadt erhöht. Die Konzentration von Bewohnern und Wohnräumen wiederum senkt den Verbrauch an Ressourcen, weil sich die Versorgungswege verkürzen. Auch Stoffkreisläufe sind leichter zu schließen (z. B. durch Recycling oder Substitution). Das gleicht zumindest teilweise aus, dass die Städter auch mehr konsumieren.
Ohne weitere Verstädterung wird unser Planet nicht funktionieren, ist Karl Husa, Bevölkerungswissenschafter und Südostasienexperte der Universität Wien, überzeugt: „Der Urbanisierungsprozess muss voranschreiten.“Eine Erhöhung des globalen Lebensstandards und Zugang zu Infrastruktur wie Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sei jedenfalls schwierig, wenn Menschen zersiedelt im ländlichen Raum leben. Die Weltbevölkerung werde noch bis Ende dieses Jahrhunderts auf rund 9,4 Milliarden Menschen wachsen und dann stagnieren. Husa: „Diese rund zwei Milliarden Menschen zusätzlich müssen noch irgendwo angesiedelt werden. Wenn das nicht in urbanen Zentren erfolgt, gehen große Flächen verloren.“Die nachhaltige, bewusste Gestaltung der Verstädterung könnte zur entscheidenden Überlebensfrage des Planeten werden – vor allem in den „Megastädten von morgen“, wo jetzt noch sehr viel gestaltet werden kann, mehr als dort, wo jetzt schon die Hochhäuser stehen.
Globale Nachhaltigkeit ist ohne urbane Nachhaltigkeit undenkbar.