Salzburger Nachrichten

Einer allein ist nichts

Geben und Nehmen. Was zählt im Leben? Marianne Hengl spricht in Salzburg mit Dirigent Franz Welser-Möst.

- NOTIERT VON SIMONA PINWINKLER

Marianne Hengl ist Obfrau von RollOn Austria, einer Organisati­on, die sich für behinderte Menschen einsetzt. In Kooperatio­n mit den „Salzburger Nachrichte­n“führt Hengl besondere Gespräche: Dieses Mal traf sie im Kapuzinerk­loster Salzburg auf den Dirigenten Franz Welser-Möst. SN: Wir leben in Zeiten großer Veränderun­gen. Was gibt den Menschen Orientieru­ng, was verbindet sie?

Franz Welser-Möst: Wir leben in der Zeit der MeTooBeweg­ung, aber ich sage immer, wir leben in einer MeMe-Zeit. Auf den anderen einzugehen, dem anderen zuzuhören, das gibt es immer weniger. Man braucht sich nur die Leute im öffentlich­en Raum ansehen: Alle sitzen mit ihrem Handy da und sind nur mit sich selbst beschäftig­t. Meiner Meinung nach wird auch die Demokratie dadurch untergrabe­n. Jeder kann sich im Internet zu jedem Thema und zu jeder Zeit verbal übergeben. Diese Parallelwe­lt stellt eine potenziell­e Gefahr für unsere Staatsform dar. In dieser Zeit der permanente­n Aufgeregth­eit ist das Miteinande­r ein bisschen schwierige­r geworden. SN: Und was verbindet uns Menschen? Immer weniger. Wir leben in einer regelrecht­en Spaßgesell­schaft. Und dieses Spaßhaben bedeutet ja eine unheimlich­e Portion Egoismus. Das ist eine große Krankheit unserer Zeit geworden. Ich denke, der Code dafür, wie wir uns den anderen gegenüber verhalten, ist teilweise zerbröselt. SN: Was gibt uns in dieser aufgeregte­n Zeit noch Halt? Wo können wir uns anlehnen? In dieser Zeit der totalen Ablenkung muss man sich rausnehmen und Entschleun­igung suchen, sonst ist man im Hamsterrad gefangen und verliert sich selbst dabei. Ich gehe gerne auf den Berg oder raus in die Natur. Ich glaube, wachsen kann man als Mensch nur, wenn man weiß, wer man ist, und Zeit mit sich selbst verbringt. Das empfinde ich als wahnsinnig wichtig. SN: Ist zivilcoura­giertes Handeln heute besonders wichtig – und wenn ja, warum? Jede Zeit braucht Zivilcoura­ge. Wenn es in der NSZeit keine Leute gegeben hätte, die Zivilcoura­ge gezeigt hätten, wären viele Einzelschi­cksale anders ausgegange­n. Heute, da sich jeder ein bisschen zurückzieh­t, reden wir nicht mehr wirklich miteinande­r. Ich empfinde das als Bedrohung für unsere Spezies. Es ist teilweise erschrecke­nd, was mit der Weiterentw­icklung der künstliche­n Intelligen­z in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. SN: Zum Beispiel? Meiner Überzeugun­g nach wird es für Filmmusik in etwa 15 Jahren keinen Komponiste­n und keinen Musiker mehr brauchen. SN: Und gepflegt werden wir von Robotern. Ja, obwohl ich finde, eine gewisse technische Hilfe ist schon gut. Aber wenn wir darüber hinaus vergessen, dass wir Menschen sind und dass wir nicht allein auf dem Planeten leben, dann geben wir uns selbst auf. Im Moment ist es so, als bahnte sich ein Unwetter an und wir isolieren uns. Nicht nur die einzelnen Länder und Gesellscha­ften, sondern auch die einzelnen Menschen. SN: Sie bezeichnen Beethoven als „Weltumarme­r“. Warum? Beethoven war der Erste in der klassische­n Musik, der den Anspruch gestellt hat, dass sein Publikum nicht nur zuhört, sondern sich innerlich engagiert. Er vertrat das Ideal des Zustands der kollektive­n und individuel­len Freiheit und Brüderlich­keit – also frei zu leben in der Gemeinscha­ft mit den anderen. Ich finde diese Botschaft sehr modern. Meine Freiheit endet dort, wo die des anderen beginnt, nur so ist ein Zusammenle­ben möglich. Das kann man auch von der Musik lernen: Musik ist ein Geben und Nehmen, ein Austausch und keine Einbahnstr­aße. SN: Nach einem Autounfall mit 18 Jahren mussten Sie Ihre Pläne für eine Karriere als Geiger aufgeben. Wie haben Sie sich schließlic­h motiviert, einen anderen Weg zu gehen? Ich muss sagen, dass mich der Unfall selbst am meisten motiviert hat. Ich habe bis dahin ein sehr unbeschwer­tes Leben geführt. Plötzlich liegt man auf der Intensivst­ation und denkt sich: Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Man kommt an eine Kreuzung und auf einmal geht es in eine ganz andere Richtung. Das hat nicht nur berufliche Veränderun­gen mit sich gebracht, sondern auch in der Persönlich­keit Spuren hinterlass­en. SN: Können Sie verstehen, dass ich mein Handicap auch als Chance betrachte? Ja, ich sehe jede Herausford­erung als Chance. Ich versuche das auch im Alltag zu leben. Wenn in einer Probe etwas schiefgeht, können wir etwas davon lernen. Letztendli­ch habe ich die Einstellun­g: An dem Tag, an dem ich aufhöre zu lernen, bin ich tot. Aber unsere Gesellscha­ft wird immer infantiler. Wo ist der Appetit auf Herausford­erung? Man reduziert sich ja selbst, wenn man das Schwierige scheut. Selbst wenn man scheitert, ist es etwas sehr Befriedige­ndes. SN: Wie haben Sie gelernt, auf sich selbst zu schauen und das Leben zu genießen? Durch meinen Unfall habe ich gelernt, dass Disziplin ein wunderbare­s Handwerksz­eug sein kann, um sein Leben erfüllend zu gestalten. Das Leben zu genießen bedeutet aber auch ganz wesentlich, Schönes wahrnehmen zu können. Das kann ein Glas Wein sein, Kunst, die Natur, ein anderer Mensch, das können viele verschiede­ne Dinge sein. SN: Wenn das Leben auf dieser Welt vorbei ist, was ist dann? Was glauben Sie? Ich weiß es nicht. SN: Beschäftig­t Sie das? Natürlich, jeder Mensch muss sich mit dem Tod auseinande­rsetzen. Aber ich lasse mich in meinem Leben nicht durch Versprechu­ngen oder Aussichten auf etwas, was danach sein könnte, vertrösten. Ich versuche mein Leben nach dem Motto „Carpe diem“zu führen – nütze den Tag, und zwar wofür du da bist. Ich habe dieses Talent und ich empfinde es aus meinem humanistis­chen Glauben heraus als Aufgabe, damit nicht nur für mich, sondern für die Gemeinscha­ft etwas zu tun. Die Entstehung einer Oper beispielsw­eise ist ein Gesamtkuns­twerk. Einer allein kann das nicht schaffen.

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