Kopf und Bauch …
Am wenigsten mögen wir den Zufall. Lieber glauben wir an Big Data oder einen wirkmächtigen Gott. Wie spielen erlernte Muster, Kopf und Bauch bei Entscheidungen zusammen?
„Gute Entscheidungen in einer unsicheren Welt brauchen Kopf und Bauch“hieß das Thema von Wolfgang Gaissmaier bei den Salzburger Hochschulwochen. Die SN fragten den Sozialpsychologen und Entscheidungsforscher an der Universität Konstanz, warum wir lieber an große Mythen glauben als an den Zufall. SN: In unserer Gesellschaft wird nichts mehr ohne Experten entschieden. Verstärkt das den Eindruck, dass man Entscheidungen rational herbeiführen könne? Wolfgang Gaissmaier: Auch Expertinnen und Experten verwenden ihr Bauchgefühl. SN: Aber vorlegen müssen sie Daten. Das ist die Frage: Wurde die Entscheidung anhand von Daten getroffen oder wurden im Nachhinein Daten gefunden, die gut zu der Entscheidung passen? Wir wissen aus vielen Bereichen, dass Expertinnen und Experten sich mit Erfahrung zunehmend auf ihre Intuition verlassen. Erfahrene Ärztinnen und Ärzte tun das z. B. und kommen damit zu besseren Entscheidungen als unerfahrene Ärztinnen und Ärzte, die noch viel lehrbuchartiger an Entscheidungen herangehen und gute Gründe abhaken. SN: Ein starker Trend in der Medizin ist Big Data. Je mehr Daten wir haben, z. B. über Krebsformen, desto besser können wir sie behandeln, sagt man. Es gibt Anwendungsbereiche, wo das seine Berechtigung hat, z. B. wenn es darum geht, seltene Unverträglichkeiten von Medikamenten herauszufinden. Dafür kann es sinnvoll sein, große Datenmengen zu analysieren. Ich glaube, dass es zudem spezifische Themen geben wird – etwa die Interpretation radiologischer Bilder –, wo künstliche Intelligenz und Algorithmen menschliche Entscheidungen verbessern, aber nicht ersetzen können. In der Allgemeinmedizin, bei der praktischen Ärztin, beim praktischen Arzt, die eine Vielzahl von Symptomen und Informationen erst einmal einem breiten Spektrum von Krankheiten zuordnen müssen, wird Big Data keine große Rolle spielen. In Situationen, die nicht genau definiert sind, die von Unsicherheit geprägt sind, behalten Erfahrung und Intuition ihren großen Wert für gute Entscheidungen. SN: Könnte man das auch von der Spiritualität so sagen? In diesem Bereich kann man ganz wenig begründen oder mit Daten belegen. Folgen wir hier weitgehend unserer Intuition? Ich weiß nicht, ob ich das alles intuitiv nennen würde. Aber es scheint ein Bedürfnis zu geben, mehr Sinn im Ganzen zu sehen, als vermutlich da ist. Es ist eine anmaßende Überlegung, dass sich jemand uns Menschen ausgedacht hat – eine relativ unwichtige Spezies, wenn man das Universum als Ganzes betrachtet. Aber da spielen offenbar viele Bedürfnisse zusammen, die letztendlich zu den unterschiedlichsten Glaubensgemeinschaften führen – von Religion über Esoterik und einzelne Strömungen der Alternativmedizin bis hin zu Verschwörungstheorien.
Die Ausprägungen solcher Glaubensgemeinschaften sind sehr unterschiedlich, aber die grundlegenden Mechanismen scheinen mir relativ ähnlich. SN: Woher kommt dieses Bedürfnis, an etwas zu glauben, was ich nicht begründen kann? Ich glaube, der Mensch sieht tendenziell eher Akteure am Werk als Zufall; er glaubt eher daran, dass da jemand ist, der handelt, der etwas tut, der agiert, der etwas aktiv erzeugt, als dass alles nur durch Zufall passiert. Das ist ein Nebenprodukt eines adaptiven Prozesses: Wenn der Mensch in der Steppe sieht, dass das Gras sich bewegt, dann ist es erst mal sinnvoll, anzunehmen, dass sich dort ein Raubtier verstecken könnte. Falls das nicht stimmt, ist es nicht so tragisch. Glauben wir jedoch, es sei nur der Wind, und dann ist es doch ein Raubtier, kann das unsere letzte Fehlentscheidung gewesen sein.
Der andere wesentliche Faktor ist, dass wir eine soziale Spezies sind, die sehr viele Überzeugungen von anderen übernimmt. Das zeichnet auch Religionen aus. Die meisten Menschen teilen den Glauben, den sie von ihren Eltern mitbekommen haben, und würden mit derselben Überzeugung an völlig andere Gottheiten glauben, wären sie zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort geboren. SN: Das Bedürfnis ist also groß, eher daran zu glauben, dass jemand die Welt erschaffen hat, als zu glauben, dass sie durch Zufall entstanden sei? Es ist auch philosophisch unmöglich zu beweisen, dass etwas zufällig ist. SN: Es ist aber auch nicht beweisbar, dass es einen Schöpfer der Welt gibt. Das ist auch schwierig, aber es ist praktisch viel vorstellbarer, greifbarer – auch wenn es aus meiner Sicht ein erkenntnistheoretischer Irrweg ist. Wenn uns das von klein auf vermittelt wird, glauben wir das erst mal. Und es ist ja nützlich, nicht alles selbst lernen zu müssen, sondern z. B. den Eltern zu glauben, dass Feuer schmerzhaft ist. Genauso übernehmen wir dann auch Wertvorstellungen, kopieren, was in der Gesellschaft vorherrscht. Wir meinen, wir hätten uns selbst überlegt, welche Musik wir gut finden oder welche Mode. Aber sehr viel davon ist einfach nur sozial geprägt. SN: Es ist uns also nichts so unlieb wie der Zufall, das Unerklärliche? Der Zufall ist für uns schwer zu akzeptieren, auch in unserem eigenen Leben. Aber wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, hängt unfassbar viel vom Zufall ab, selbst ob wir erfolgreich sind oder nicht. Wir meinen zwar, wir hätten unseren Erfolg selbst geschaffen, aber de facto entziehen sich wesentliche Faktoren dabei völlig unserer Kontrolle. Der Zufall ist ein viel stärkerer Faktor in unserem Leben, als wir uns eingestehen wollen. SN: Wir haben eine ausgeprägte Fehlwahrnehmung vom Zufall? Diese Fehlwahrnehmung gibt es bei allen Menschen. Wenn wir beim Roulette fünf Mal Rot sehen, haben wir das Gefühl, dass jetzt Schwarz dran wäre, auch wenn wir wissen, dass das Unsinn ist. Wir haben spielsüchtige Menschen untersucht. Bei denen ist diese Fehlwahrnehmung des Zufalls besonders stark ausgeprägt. Sie meinen, Muster in den Spielautomaten zu erkennen, und glauben tatsächlich, sie könnten diese Automaten langfristig schlagen.
Auch bei Menschen mit religiösen oder anderen paranormalen Überzeugungen ist die Fehlwahrnehmung des Zufalls ausgeprägter. Sie trägt daher offenbar zum Entstehen komplexer Glaubenssysteme bei, die mit irdischen Daten nicht begründbar sind. SN: Warum wehren wir uns offenbar so prinzipiell dagegen, den Zufall zu akzeptieren? Der Zufall scheint keine sehr natürliche Kategorie zu sein. Es gibt sehr wenige Dinge auf der Welt, die tatsächlich zufällig sind. Wir trachten daher immer, in Vorgängen und Ereignissen einen Mechanismus zu erkennen. SN: Das ganze Streben der Naturwissenschaften geht dahin. Ja, aber auch das Bestreben jedes einzelnen Menschen geht dahin, die Welt zu begreifen und Ereignisse vorhersagen zu können. Wenn uns das gelingt, ist das ein Überlebensvorteil. Daher sind wir darauf geeicht, Regelhaftigkeiten zu erkennen. Dafür zahlen wir eben den Preis, dass wir manchmal Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge zu erkennen meinen und Überzeugungen entwickeln, die letztlich illusionär sind.