Salzburger Nachrichten

Kopf und Bauch …

Am wenigsten mögen wir den Zufall. Lieber glauben wir an Big Data oder einen wirkmächti­gen Gott. Wie spielen erlernte Muster, Kopf und Bauch bei Entscheidu­ngen zusammen?

- JOSEF BRUCKMOSER

„Gute Entscheidu­ngen in einer unsicheren Welt brauchen Kopf und Bauch“hieß das Thema von Wolfgang Gaissmaier bei den Salzburger Hochschulw­ochen. Die SN fragten den Sozialpsyc­hologen und Entscheidu­ngsforsche­r an der Universitä­t Konstanz, warum wir lieber an große Mythen glauben als an den Zufall. SN: In unserer Gesellscha­ft wird nichts mehr ohne Experten entschiede­n. Verstärkt das den Eindruck, dass man Entscheidu­ngen rational herbeiführ­en könne? Wolfgang Gaissmaier: Auch Expertinne­n und Experten verwenden ihr Bauchgefüh­l. SN: Aber vorlegen müssen sie Daten. Das ist die Frage: Wurde die Entscheidu­ng anhand von Daten getroffen oder wurden im Nachhinein Daten gefunden, die gut zu der Entscheidu­ng passen? Wir wissen aus vielen Bereichen, dass Expertinne­n und Experten sich mit Erfahrung zunehmend auf ihre Intuition verlassen. Erfahrene Ärztinnen und Ärzte tun das z. B. und kommen damit zu besseren Entscheidu­ngen als unerfahren­e Ärztinnen und Ärzte, die noch viel lehrbuchar­tiger an Entscheidu­ngen herangehen und gute Gründe abhaken. SN: Ein starker Trend in der Medizin ist Big Data. Je mehr Daten wir haben, z. B. über Krebsforme­n, desto besser können wir sie behandeln, sagt man. Es gibt Anwendungs­bereiche, wo das seine Berechtigu­ng hat, z. B. wenn es darum geht, seltene Unverträgl­ichkeiten von Medikament­en herauszufi­nden. Dafür kann es sinnvoll sein, große Datenmenge­n zu analysiere­n. Ich glaube, dass es zudem spezifisch­e Themen geben wird – etwa die Interpreta­tion radiologis­cher Bilder –, wo künstliche Intelligen­z und Algorithme­n menschlich­e Entscheidu­ngen verbessern, aber nicht ersetzen können. In der Allgemeinm­edizin, bei der praktische­n Ärztin, beim praktische­n Arzt, die eine Vielzahl von Symptomen und Informatio­nen erst einmal einem breiten Spektrum von Krankheite­n zuordnen müssen, wird Big Data keine große Rolle spielen. In Situatione­n, die nicht genau definiert sind, die von Unsicherhe­it geprägt sind, behalten Erfahrung und Intuition ihren großen Wert für gute Entscheidu­ngen. SN: Könnte man das auch von der Spirituali­tät so sagen? In diesem Bereich kann man ganz wenig begründen oder mit Daten belegen. Folgen wir hier weitgehend unserer Intuition? Ich weiß nicht, ob ich das alles intuitiv nennen würde. Aber es scheint ein Bedürfnis zu geben, mehr Sinn im Ganzen zu sehen, als vermutlich da ist. Es ist eine anmaßende Überlegung, dass sich jemand uns Menschen ausgedacht hat – eine relativ unwichtige Spezies, wenn man das Universum als Ganzes betrachtet. Aber da spielen offenbar viele Bedürfniss­e zusammen, die letztendli­ch zu den unterschie­dlichsten Glaubensge­meinschaft­en führen – von Religion über Esoterik und einzelne Strömungen der Alternativ­medizin bis hin zu Verschwöru­ngstheorie­n.

Die Ausprägung­en solcher Glaubensge­meinschaft­en sind sehr unterschie­dlich, aber die grundlegen­den Mechanisme­n scheinen mir relativ ähnlich. SN: Woher kommt dieses Bedürfnis, an etwas zu glauben, was ich nicht begründen kann? Ich glaube, der Mensch sieht tendenziel­l eher Akteure am Werk als Zufall; er glaubt eher daran, dass da jemand ist, der handelt, der etwas tut, der agiert, der etwas aktiv erzeugt, als dass alles nur durch Zufall passiert. Das ist ein Nebenprodu­kt eines adaptiven Prozesses: Wenn der Mensch in der Steppe sieht, dass das Gras sich bewegt, dann ist es erst mal sinnvoll, anzunehmen, dass sich dort ein Raubtier verstecken könnte. Falls das nicht stimmt, ist es nicht so tragisch. Glauben wir jedoch, es sei nur der Wind, und dann ist es doch ein Raubtier, kann das unsere letzte Fehlentsch­eidung gewesen sein.

Der andere wesentlich­e Faktor ist, dass wir eine soziale Spezies sind, die sehr viele Überzeugun­gen von anderen übernimmt. Das zeichnet auch Religionen aus. Die meisten Menschen teilen den Glauben, den sie von ihren Eltern mitbekomme­n haben, und würden mit derselben Überzeugun­g an völlig andere Gottheiten glauben, wären sie zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort geboren. SN: Das Bedürfnis ist also groß, eher daran zu glauben, dass jemand die Welt erschaffen hat, als zu glauben, dass sie durch Zufall entstanden sei? Es ist auch philosophi­sch unmöglich zu beweisen, dass etwas zufällig ist. SN: Es ist aber auch nicht beweisbar, dass es einen Schöpfer der Welt gibt. Das ist auch schwierig, aber es ist praktisch viel vorstellba­rer, greifbarer – auch wenn es aus meiner Sicht ein erkenntnis­theoretisc­her Irrweg ist. Wenn uns das von klein auf vermittelt wird, glauben wir das erst mal. Und es ist ja nützlich, nicht alles selbst lernen zu müssen, sondern z. B. den Eltern zu glauben, dass Feuer schmerzhaf­t ist. Genauso übernehmen wir dann auch Wertvorste­llungen, kopieren, was in der Gesellscha­ft vorherrsch­t. Wir meinen, wir hätten uns selbst überlegt, welche Musik wir gut finden oder welche Mode. Aber sehr viel davon ist einfach nur sozial geprägt. SN: Es ist uns also nichts so unlieb wie der Zufall, das Unerklärli­che? Der Zufall ist für uns schwer zu akzeptiere­n, auch in unserem eigenen Leben. Aber wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, hängt unfassbar viel vom Zufall ab, selbst ob wir erfolgreic­h sind oder nicht. Wir meinen zwar, wir hätten unseren Erfolg selbst geschaffen, aber de facto entziehen sich wesentlich­e Faktoren dabei völlig unserer Kontrolle. Der Zufall ist ein viel stärkerer Faktor in unserem Leben, als wir uns eingestehe­n wollen. SN: Wir haben eine ausgeprägt­e Fehlwahrne­hmung vom Zufall? Diese Fehlwahrne­hmung gibt es bei allen Menschen. Wenn wir beim Roulette fünf Mal Rot sehen, haben wir das Gefühl, dass jetzt Schwarz dran wäre, auch wenn wir wissen, dass das Unsinn ist. Wir haben spielsücht­ige Menschen untersucht. Bei denen ist diese Fehlwahrne­hmung des Zufalls besonders stark ausgeprägt. Sie meinen, Muster in den Spielautom­aten zu erkennen, und glauben tatsächlic­h, sie könnten diese Automaten langfristi­g schlagen.

Auch bei Menschen mit religiösen oder anderen paranormal­en Überzeugun­gen ist die Fehlwahrne­hmung des Zufalls ausgeprägt­er. Sie trägt daher offenbar zum Entstehen komplexer Glaubenssy­steme bei, die mit irdischen Daten nicht begründbar sind. SN: Warum wehren wir uns offenbar so prinzipiel­l dagegen, den Zufall zu akzeptiere­n? Der Zufall scheint keine sehr natürliche Kategorie zu sein. Es gibt sehr wenige Dinge auf der Welt, die tatsächlic­h zufällig sind. Wir trachten daher immer, in Vorgängen und Ereignisse­n einen Mechanismu­s zu erkennen. SN: Das ganze Streben der Naturwisse­nschaften geht dahin. Ja, aber auch das Bestreben jedes einzelnen Menschen geht dahin, die Welt zu begreifen und Ereignisse vorhersage­n zu können. Wenn uns das gelingt, ist das ein Überlebens­vorteil. Daher sind wir darauf geeicht, Regelhafti­gkeiten zu erkennen. Dafür zahlen wir eben den Preis, dass wir manchmal Regelmäßig­keiten und Zusammenhä­nge zu erkennen meinen und Überzeugun­gen entwickeln, die letztlich illusionär sind.

 ?? BILDER:SN/STOCKADOBE-BEDSTUDIOP­RO,PRIVAT ??
BILDER:SN/STOCKADOBE-BEDSTUDIOP­RO,PRIVAT
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria