Evgeny Kissin erreicht einen Gipfel der Klaviermusik
Der russische Pianist hat sich vom „Chopinisten“zum „Beethovenianer“gesteigert.
SALZBURG. Der russische Pianist Evgeny Kissin kam am Dienstag zu seinem jährlichen Besuch ins prall gefüllte Große Festspielhaus. Als Zwölfjähriger hatte er zu Recht als russisches Wunderkind gegolten, nachdem er beide Klavierkonzerte von Frédéric Chopin aufgenommen hatte. Inzwischen hat Evgeny Kissin den Sprung ins Künstlerleben geschafft, und zwar mithilfe Ludwig van Beethovens. Das scheint eine Strategie zu sein. Im vorigen Festspielsommer spielte er – in scheinbar unangestrengter Manier – eine ungemein virtuose „Hammerklavier“-Sonate, ein Werk, das üblicherweise Pianisten Schweißperlen ins Gesicht treibt. Federleicht hörte sich das bei ihm an.
Das heurige Konzert war nicht minder anspruchsvoll: Neben der „Grande Sonate Pathétique“(Nr. 8 in c-Moll op. 13) standen die „Eroica-Variationen“op. 35 auf dem Programm, Variationen über ein Thema, das Beethoven mehrfach verwendet hat, sodann die 17. Klaviersonate („Der Sturm“) und schließlich die anspruchsvolle „WaldsteinSonate“(Sonate Nr. 21 in C-Dur op. 53.) Dass Kissin danach noch die Energie für Zugaben aufbrachte, soll besonders angemerkt werden.
An seinem Spiel beeindruckt sein variantenreicher, immer glasklarer Anschlag, der kein kompromisslerisches Sowohl-als-auch kennt. Er gibt Akkorden Zeit zum Nachwirken oder bereitet sie durch kleine Pausen vor. Und er stellt – wie in den „Eroica-Variationen“– dem dahinrauschenden Unterbau einzelne Töne gleichsam als pikante Würze zur Seite.
Kein Geringerer als Swjatoslaw Richter hat den jungen Kissin als „Chopinisten“bezeichnet. Der älter und reifer werdende Pianist hat nun – etwa mit den Salzburger Konzerten von 2018 und heuer – eine Brücke zum „Beethovenianertum“ geschlagen. Für ihn scheint das ein geradliniger Weg zur Reifung zu sein. Beethovens Klavierwerk gilt als schwieriger Gipfel der Klaviermusik, der wohl auch einen munter drauflosspielenden Chopin-Virtuosen dazu zwingen kann, neue – vielleicht als konstruktivistisch zu bezeichnende – „Farben“ins Spiel zu bringen.
Man mag den Eindruck gewinnen, dass das mit einem partiellen Verlust an souveräner Spielfertigkeit verbunden ist, weil Kissin sich nun weniger Freiheiten zu nehmen bereit ist. Aber wenn es so wäre, wäre dies nur ein Übergangsphänomen vom „Chopinisten-“zum Beethovenianertum. Darauf deuten die Zugaben hin. Sie stammten allesamt von Beethoven und gaben dem Pianisten Gelegenheit, auch über Freiräume bei der Interpretation dieser Musik zu sinnieren.
Dem Jubel des Publikums jedenfalls tat dies sowieso keinen Abbruch. Es liebt Kissin – in welcher Gewandung immer er auftritt.