Salzburger Nachrichten

Unsere Staatsform ist der Stillstand

Als ob wir alle Zeit der Welt hätten: Zwischen dem Platzen der türkis-blauen Koalition und dem Antritt der neuen Regierung wird rund ein Dreivierte­ljahr vergangen sein.

- ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Es geht auch so: Am 26. Mai verlor die damalige griechisch­e Regierungs­partei Syriza die EUWahl, woraufhin Ministerpr­äsident Alexis Tsipras vorgezogen­e Parlaments­wahlen ausrief. Diese Wahlen fanden am 7. Juli statt. Am 9. Juli trat die neue Regierung unter Kyriakos Mitsotakis ihr Amt an. Seither erscheinen in ganz Europa ehrfürchti­ge Zeitungsbe­richte über den Reformwirb­el, den der neue Premier in dem reformbedü­rftigen Land entfacht hat.

Es gibt gewiss etliches an Griechenla­nd und seiner Politik, das nicht unbedingt nachahmens­wert ist. Und es ist nicht lebensnotw­endig, dass bereits zwei Tage nach der Parlaments­wahl die neue Regierung steht. Ein wenig Nachdenkli­chkeit ist aber doch angebracht, wenn man die flotten griechisch­en Abläufe mit den unsrigen vergleicht. Wie erinnerlic­h, ist in Österreich ungefähr zeitgleich mit Griechenla­nd der Entschluss gefallen, den Nationalra­t aufzulösen und vorzeitig neu zu wählen. Die Wahl fand aber nicht, wie in Griechenla­nd, noch vor dem Sommer statt. Vielmehr hat zur Stunde, und wir nähern uns bereits der Mitte des Augusts, noch nicht einmal der Wahlkampf so richtig begonnen. Zu den Urnen dürfen wir erst am 29. September schreiten. Anschließe­nd wird nicht etwa, wie in Griechenla­nd, hurtig regierungs­gebildet, sondern endlos sondiert und verhandelt werden. Insider rechnen damit, dass die neue österreich­ische Regierung erst im kommenden Jahr stehen wird.

Und zur Ablenkung: Törichte Placebothe­men

Also ein Dreivierte­ljahr nach Ibiza und dem Platzen der alten Regierung.

Dass diese überlange Lähmung dem Land nicht guttut, liegt auf der Hand, wobei diese Feststellu­ng keinesfall­s die Arbeit von Übergangsk­anzlerin Brigitte Bierlein und ihrem Regierungs­team schmälern soll. Diese Damen und Herren machen ihren Job ganz ausgezeich­net. Sie stellen aber – und das haben Bierlein & Co. selbst immer wieder völlig zu Recht betont – keine vollwertig­e Regierung dar. Sie können sich weder auf einen Wählerauft­rag berufen noch haben sie ein Programm, für das sie gewählt wurden und das es jetzt umzusetzen gilt. Eine Übergangsr­egierung wie das Kabinett Bierlein kann daher keine langfristi­gen Entscheidu­ngen treffen und keine wirklichen Reformen einleiten. Sie kann nur verwalten, nicht aber gestalten. Sie kann weder das Pflegeprob­lem lösen noch die Bildungsmi­sere lindern. Sie kann weder ein ökologisch­es Steuersyst­em umsetzen noch die Pensionen nachhaltig sichern.

Man muss freilich zugeben: All das haben die früheren Regierunge­n auch nicht zustande gebracht, obwohl sie im Gegensatz zum Kabinett Bierlein über einen politische­n Auftrag und ein Programm verfügt haben. Im Gegenteil, es scheint, als sei der Stillstand die eigentlich­e Staatsform in Österreich. Dies belegt ein Blick in die vergangene­n vier Jahre: 2016 wurde dauerwahlg­ekämpft, zwischen der Bekanntgab­e der Kandidaten für die Bundespräs­identschaf­tswahl und der im dritten Wahlgang endlich rechtsgült­ig erfolgten Wahl Alexander Van der Bellens lag fast ein ganzes Jahr. Bilanz: zwölf Monate Stillstand. Nicht viel anders gestaltete sich 2017: Im Mai ließ der neue ÖVPObmann Sebastian Kurz die Koalition platzen, im September wurde gewählt, knapp vor Weihnachte­n gab es die neue Regierung. Bilanz: acht Monate Stillstand. 2018 wurde ein wenig regiert. Immerhin. Jetzt schreiben wir 2019, und seit dem Ibiza-Video, das am 17. Mai Österreich durcheinan­derwirbelt­e, ist unsere Politik geprägt von parlamenta­rischen Zufallsmeh­rheiten und einer provisoris­chen Beamtenreg­ierung. Und von Parteien, die nicht Politik machen, sondern Wahlkampf. Die Frage, wer wann welche Festplatte geschredde­rt hat, nimmt mehr öffentlich­en Raum ein als die Frage, wie wir in Zukunft unsere Pflege finanziere­n sollen. Die Aussage des burgenländ­ischen FPÖ-Obmanns, dass er sich Herrn Doskozil als Bundeskanz­ler vorstellen kann, wird mit mehr Ernsthafti­gkeit erörtert als der Umstand, dass Österreich im Klimaschut­z Nachholbed­arf hat. Der Rest – man denke an die Forderung der ÖVP, das Bargeld in die Verfassung zu schreiben – sind törichte Placebothe­men.

Es wäre Zeit zu überlegen, ob Wahlkämpfe tatsächlic­h immer so unerträgli­ch lange dauern müssen; ob es nicht klug wäre, die Wahlen so rasch wie möglich nach einer vorzeitige­n Nationalra­tsauflösun­g anzusetzen, anstatt Monate kostbarer Arbeitszei­t zu vergeuden; und ob nicht am allerklügs­ten wäre, ausnahmswe­ise einmal eine volle Legislatur­periode durchzuarb­eiten, statt ständig den Nationalra­t vorzeitig aufzulösen.

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BILD: SN/APA/HANS PUNZ Die Renovierun­gsarbeiten im Parlaments­gebäude schreiten hurtig voran. Von Österreich­s Innenpolit­ik kann das nicht behauptet werden.
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Andreas Koller

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