Unsere Staatsform ist der Stillstand
Als ob wir alle Zeit der Welt hätten: Zwischen dem Platzen der türkis-blauen Koalition und dem Antritt der neuen Regierung wird rund ein Dreivierteljahr vergangen sein.
Es geht auch so: Am 26. Mai verlor die damalige griechische Regierungspartei Syriza die EUWahl, woraufhin Ministerpräsident Alexis Tsipras vorgezogene Parlamentswahlen ausrief. Diese Wahlen fanden am 7. Juli statt. Am 9. Juli trat die neue Regierung unter Kyriakos Mitsotakis ihr Amt an. Seither erscheinen in ganz Europa ehrfürchtige Zeitungsberichte über den Reformwirbel, den der neue Premier in dem reformbedürftigen Land entfacht hat.
Es gibt gewiss etliches an Griechenland und seiner Politik, das nicht unbedingt nachahmenswert ist. Und es ist nicht lebensnotwendig, dass bereits zwei Tage nach der Parlamentswahl die neue Regierung steht. Ein wenig Nachdenklichkeit ist aber doch angebracht, wenn man die flotten griechischen Abläufe mit den unsrigen vergleicht. Wie erinnerlich, ist in Österreich ungefähr zeitgleich mit Griechenland der Entschluss gefallen, den Nationalrat aufzulösen und vorzeitig neu zu wählen. Die Wahl fand aber nicht, wie in Griechenland, noch vor dem Sommer statt. Vielmehr hat zur Stunde, und wir nähern uns bereits der Mitte des Augusts, noch nicht einmal der Wahlkampf so richtig begonnen. Zu den Urnen dürfen wir erst am 29. September schreiten. Anschließend wird nicht etwa, wie in Griechenland, hurtig regierungsgebildet, sondern endlos sondiert und verhandelt werden. Insider rechnen damit, dass die neue österreichische Regierung erst im kommenden Jahr stehen wird.
Und zur Ablenkung: Törichte Placebothemen
Also ein Dreivierteljahr nach Ibiza und dem Platzen der alten Regierung.
Dass diese überlange Lähmung dem Land nicht guttut, liegt auf der Hand, wobei diese Feststellung keinesfalls die Arbeit von Übergangskanzlerin Brigitte Bierlein und ihrem Regierungsteam schmälern soll. Diese Damen und Herren machen ihren Job ganz ausgezeichnet. Sie stellen aber – und das haben Bierlein & Co. selbst immer wieder völlig zu Recht betont – keine vollwertige Regierung dar. Sie können sich weder auf einen Wählerauftrag berufen noch haben sie ein Programm, für das sie gewählt wurden und das es jetzt umzusetzen gilt. Eine Übergangsregierung wie das Kabinett Bierlein kann daher keine langfristigen Entscheidungen treffen und keine wirklichen Reformen einleiten. Sie kann nur verwalten, nicht aber gestalten. Sie kann weder das Pflegeproblem lösen noch die Bildungsmisere lindern. Sie kann weder ein ökologisches Steuersystem umsetzen noch die Pensionen nachhaltig sichern.
Man muss freilich zugeben: All das haben die früheren Regierungen auch nicht zustande gebracht, obwohl sie im Gegensatz zum Kabinett Bierlein über einen politischen Auftrag und ein Programm verfügt haben. Im Gegenteil, es scheint, als sei der Stillstand die eigentliche Staatsform in Österreich. Dies belegt ein Blick in die vergangenen vier Jahre: 2016 wurde dauerwahlgekämpft, zwischen der Bekanntgabe der Kandidaten für die Bundespräsidentschaftswahl und der im dritten Wahlgang endlich rechtsgültig erfolgten Wahl Alexander Van der Bellens lag fast ein ganzes Jahr. Bilanz: zwölf Monate Stillstand. Nicht viel anders gestaltete sich 2017: Im Mai ließ der neue ÖVPObmann Sebastian Kurz die Koalition platzen, im September wurde gewählt, knapp vor Weihnachten gab es die neue Regierung. Bilanz: acht Monate Stillstand. 2018 wurde ein wenig regiert. Immerhin. Jetzt schreiben wir 2019, und seit dem Ibiza-Video, das am 17. Mai Österreich durcheinanderwirbelte, ist unsere Politik geprägt von parlamentarischen Zufallsmehrheiten und einer provisorischen Beamtenregierung. Und von Parteien, die nicht Politik machen, sondern Wahlkampf. Die Frage, wer wann welche Festplatte geschreddert hat, nimmt mehr öffentlichen Raum ein als die Frage, wie wir in Zukunft unsere Pflege finanzieren sollen. Die Aussage des burgenländischen FPÖ-Obmanns, dass er sich Herrn Doskozil als Bundeskanzler vorstellen kann, wird mit mehr Ernsthaftigkeit erörtert als der Umstand, dass Österreich im Klimaschutz Nachholbedarf hat. Der Rest – man denke an die Forderung der ÖVP, das Bargeld in die Verfassung zu schreiben – sind törichte Placebothemen.
Es wäre Zeit zu überlegen, ob Wahlkämpfe tatsächlich immer so unerträglich lange dauern müssen; ob es nicht klug wäre, die Wahlen so rasch wie möglich nach einer vorzeitigen Nationalratsauflösung anzusetzen, anstatt Monate kostbarer Arbeitszeit zu vergeuden; und ob nicht am allerklügsten wäre, ausnahmsweise einmal eine volle Legislaturperiode durchzuarbeiten, statt ständig den Nationalrat vorzeitig aufzulösen.