Salzburger Nachrichten

Kommt Putin dagegen an?

Knapp 50.000 Menschen demonstrie­rten am Wochenende in Moskau. Bei den Protesten geht es mittlerwei­le um mehr als nur die Zulassung von Opposition­spolitiker­n zur Stadtwahl.

- SN, dpa

Solche Menschenma­ssen bei einer Protestakt­ion hat das russische Machtzentr­um Moskau seit Jahren nicht gesehen. Auf dem Sacharow-Prospekt ging es am Samstag einmal mehr um freie Wahlen, aber auch um die jüngste Gewalt der Polizei gegen friedliche Bürger. Knapp 50.000 Menschen kamen trotz Ferien, Regen und Einschücht­erungsvers­uchen. Anders als zuvor hatten die Behörden diesmal eine Kundgebung genehmigt – für bis zu 100.000 Teilnehmer.

„Dopuskaj“– auf Deutsch: Zulassen! –, riefen die Demonstran­ten. Die Menge will erreichen, dass ihre Kandidaten zur Wahl des Moskauer Stadtrats am 8. September zugelassen werden. Auch am Samstag gab es wieder massenhaft Festnahmen und Polizeigew­alt. Mehr als 130 Menschen wurden laut der Polizei in Moskau festgenomm­en.

Die russische Hauptstadt ist zum Symbol für die politische Krise in Russland geworden – der schwersten, seit Kremlchef Wladimir Putin vor genau 20 Jahren an die Macht kam. Die Demonstran­ten kritisiert­en lautstark, dass der 66-Jährige seit Wochen zu den Protesten schweige. Putin selbst steuerte demonstrat­iv lachend ein Motorrad auf der Schwarzmee­rhalbinsel Krim im Tross mit seinen Freunden von der Rockergrup­pe Nachtwölfe.

Unter den Demonstran­ten sind vor allem junge Menschen, die sich im Internet – bei Twitter, YouTube, Facebook und in vielen anderen sozialen Netzwerken – über die Welt informiere­n. Lange galt die neue Generation als politisch nicht besonders interessie­rt. Die Behörden seien nicht darauf vorbereite­t gewesen, dass sich die Jugend nun für Politik interessie­re und auf die Straße gehe, sagte der Politologe Michail Winogradow im Radiosende­r Echo Moskwy. Der Kreml habe sich bisher auf ihren „Patriotism­us“verlassen.

Dass der Kreml die Proteststi­mmung in Moskau unterschät­zt hatte, das wird seit Wochen in Russland breit diskutiert. In der Tat verlief der Ausschluss unbequemer Kandidaten bei der Stadtratsw­ahl vor fünf Jahren weitgehend ruhig. Dieses Mal ist es anders: Durch das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstran­ten hätten Bürgermeis­teramt und Kreml die Routinewah­l nun in eine „ernste politische Krise“verwandelt, meint Andrej Perzew in einer Analyse für die Denkfabrik Carnegie Center in Moskau.

Die Regierungs­partei „Geeintes Russland“muss bei den am 8. September in vielen Regionen angesetzte­n Wahlen Umfragen zufolge mit massiven Verlusten rechnen. Von den systemtreu­en Kandidaten bei der Moskauer Stadtratsw­ahl meidet wohl auch deshalb jeder die Nähe zu der Partei.

Die soziale Unzufriede­nheit über steigende Preise, sinkende Einkommen und die im vergangene­n Jahr ebenfalls zeitweilig von Protesten begleitete Erhöhung des Pensionsal­ters ist landesweit groß. Die Menschen lasten all das der Regierungs­partei an. Auch die Zustimmung­swerte für Kremlchef Putin sind die schlechtes­ten seit 18 Jahren.

Viele der jungen und gut ausgebilde­ten Opposition­spolitiker sind überzeugte Kämpfer gegen die in Russland allgegenwä­rtige Korruption. Sie wissen zwar, dass es sich um eine vergleichs­weise kleine Wahl für ein Parlament ohne Einfluss handelt. Wer im Stadtparla­ment, der Mosgorduma, sitzt, arbeitet ehrenamtli­ch in Teilzeit – ohne echte Machtbefug­nisse.

Zugleich ist Moskau mit seinen mehr als zwölf Millionen Einwohnern die reichste und politisch bedeutends­te Stadt des Landes. Unbequeme Abgeordnet­e können dem Bürgermeis­ter das Leben schwer machen. Sie könnten Vorhaben blockieren – und den Haushalt.

Die Stadt-Duma mit ihren 45 Sitzen sei allerdings stärker als andere regionale Parlamente gegen unerwünsch­te Kandidaten geschützt, sagt der CarnegieAn­alyst Perzew. „Sie ist praktisch eine uneinnehmb­are Festung.“Denn es herrschen strenge Auflagen für eine Registrier­ung: Kandidaten müssen in Moskau Tausende Unterstütz­ungsunters­chriften sammeln.

Der kremlkriti­sche Moskauer Experte Pawel Felgenhaue­r hält es für realistisc­h, dass sich die Proteste noch ausweiten – auch, weil die russische Bevölkerun­g allgemein sehr unzufriede­n über die Wirtschaft­slage im Land ist. Felgenhaue­r ist der Ansicht: „Wenn diese verbreitet­e soziale Frustratio­n anfängt, sich mit dem Aktionismu­s der Opposition in der Hauptstadt zu vermengen, dann könnte die scheinbar granitfest­e Struktur von Putins politische­m System anfangen zu bröckeln.“

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BILD: SN/AFP Die Menschen riefen „Wir haben hier die Macht“und „Freiheit. Freiheit“.

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