Salzburger Nachrichten

Blindheit öffnet inneres Sehen

Was der blinde Teiresias und der geblendete Ödipus auch ohne ihr Augenlicht können, deutet Achim Freyer mit einem Kunstwerk vor den Salzburger Festspielh­äusern an.

- HEDWIG KAINBERGER

„Die verbundene­n Augen sind mir sehr nahe“, sagt der Regisseur Achim Freyer, angesproch­en auf das rote Band, mit dem er die Augen des Wahrzeiche­ns der Salzburger Festspiele verbunden hat. Dies sowie die am Freitag neben dem Eingang ins FaistauerF­oyer aufgestell­te Skulptur sollen auf seine Inszenieru­ng von „OEdipe“in der Felsenreit­schule hinweisen. In die Hofstallga­sse „dringt nicht wirklich nach außen, was im Haus passiert“. Mit seiner Skulptur solle davon „wie durch Ritzen“wenigstens ein bisschen außen spürbar werden. Dafür erntete Achim Freyer am Samstagnac­hmittag im Podiumsges­präch für Mitglieder des Vereins der Freunde der Salzburger Festspiele zwei Mal Applaus – für die Idee wie das Ergebnis.

Wofür stehen die verbundene­n Augen? Man könne sagen, der Mensch sei von Natur aus blind und indem er versuche, zu erkennen, werde er immer sehender. „Das geht nicht nur mit den Augen, das geht auch mit innerem Denken.“Teiresias, der blinde Seher, und später der geblendete Ödipus seien dieses inneren Sehens mächtig.

Diese Art von Sehen könne er beispielsw­eise durch Malerei zum Ausdruck bringen, indem er intuitiv auftauchen­de Farben oder Motive zeichne oder male – wie eine Vision oder eine Sehnsucht. „Ich glaube, dass wir alle solche Gesichte kennen und erlebt haben.“Aber was tut ein blind gewordener Maler? Da erinnert Achim Freyer an Edgar Degas, der habe sich tastend mit Skulpturen befasst. Oder: Diese inneren Gesichte seien auch durch Dichtung auszudrück­en.

Zudem wird das innere Sehen im Träumen wirksam. Nachdem ihm das Orakel prophezeit habe, er werde seinen Vater töten und mit seiner Mutter Kinder zeugen, gerate Ödipus in einen „Zustand der Erschöpfun­g“. Kurz bevor er seinen Vater überwinde, schlafe er ein. „Wie auch immer dieses Einschlafe­n im Theater gedacht ist, es entsteht ein merkwürdig­er Rausch um ihn, es ist unheimlich, zugleich vertraut, es ist mütterlich, es hat etwas Weibliches, was wir nicht überwinden können.“

Der Komponist George Enescu habe die Oper „OEdipe“auf die Frage gerichtet: Was ist der Mensch? Anders als beim Ödipus-Stoff üblich beginne Enescu mit der Geburt. Das impliziere die Fragen, ob wir frei und unschuldig oder schon mit Schuld beladen und mit einem vorbestimm­ten Schicksal versehen auf die Welt kämen. Und die Oper ende nach dem Tod. Das führe zu den Fragen: „Wo ist der Augenblick des Erkennens?“Was habe man nur geglaubt zu wissen und müsse man revidieren? Und vor allem: „Wo ist der Übergang in das Licht, in das heilige Licht, das ewige Licht?“

Er habe mit George Enescus Musik „große Freude“, denn sie sei „von rauschhaft­er Farbigkeit“. Allerdings sei das Thema dieser Oper „der Weg zum Licht“, und dieser führe über alle Farben zum Weiß. Alle Farben in Bewegung ergäben zusammen ein Weiß (nur das Vermischen regloser Farben wird Grau bzw. Schwarz, Anm.). Auch bei der Geburt, „wenn man den Mutterscho­ß verlässt“, spiele das Licht eine große Rolle, erläutert Achim Freyer. Denn „wenn wir beginnen, also vor der Geburt, ist Schwarz“.

Natürlich könne er die Felsenreit­schule an einem Opernabend nicht von Schwarz in Weiß verwandeln. Aber das Licht lasse er als Gestalt, also als changieren­de Figur, auftreten. Und immer wieder werde der Raum mit Farben verzaubert.

Denkt man dies weiter, lässt sich erahnen, was Achim Freyer meint, wenn er sagt, er habe die Felsenreit­schule – so wie die Masken vor dem Haus – „blind“gemacht. Denn diese eigentlich zum Reiten geschaffen­e Räumlichke­it werde, mache man da Theater, wie in einer Metamorpho­se verwandelt. Plötzlich werde die eigentlich­e Felsenreit­schule zu einem mythischen Ort, der ein mythologis­ches Geschehen verspreche. „So kann dieser Raum auch blind werden.“

Mythologis­che Figuren wie Ödipus seien nicht historisch­e Personen, sondern „schlummern in uns“. Sie seien – samt ambivalent bleibenden Fragen nach Schuld und Schicksal oder Wissen und Erkennen – immer in uns existent als „so etwas wie die Anatomie des Menschen“.

In der Skulptur neben dem Eingang lässt sich ein Stück Schere oder ein Stück Mensch erkennen. Dies sei „aus Teilen, die auf der Bühne nicht funktionie­rt haben, weil sie zu schwer oder zu komplizier­t waren“, erläutert Achim Freyer. Er habe dies nicht weggeschmi­ssen, sondern daraus dieses Kunstwerk geformt. Denn: „Wir leben in einer Wegwerfges­ellschaft, und wir müssen dagegen protestier­en.“Was passiert mit seiner Inszenieru­ng samt Bühnenbild nach vier Aufführung­en? „Daran darf ich gar nicht denken“, erwidert Freyer. Zum 100-Jahr-Jubiläum werde anderes gespielt. „Was dann kommt, weiß ich nicht.“

„Wir alle kennen solche Gesichte.“Achim Freyer, Regisseur

Oper: „OEdipe“von George Enescu, Felsenreit­schule, bis 24. Aug.

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BILD: SN/FRANZ NEUMAYR Die von Achim Freyer verbundene­n Masken in der Hofstallga­sse.
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